Kleine Kulturgeschichte der Ohrfeige Feige aufs Ohr
Düsseldorf · Die Ohrfeige gehört zu den ältesten Mitteln, eine Person ihrer Würde zu berauben. Verletzte Ehre brennt in der Regel heißer als die getroffene Wange. Besonders schlagfertig ist das nicht.
Hinter einer Ohrfeige muss nicht immer ein Akt der Aggression stecken. Im Mittelalter war es üblich, bei der Setzung von Grenzsteinen Knaben hinzuzuziehen – meist handelte es sich um die künftigen Erben von Grund und Boden –, um ihnen hernach kräftige Ohrfeigen zu verabreichten, auf dass sie sich ein Leben lang genau an die Stelle erinnerten. Eine rabiate Form des Gedächtnistrainings, die uns noch heute in der Redewendung begegnet, jemand möge sich etwas „hinter die Ohren“ schreiben.
Auch der deutsche Komiker Oliver Pocher und sein US-Kollege Chris Rock, die am vergangenen Wochenende Opfer von Ohrfeigen wurden, werden wohl im Leben nicht vergessen, wo es passiert ist: bei dem einen am Rande eines Boxkampfs in der Dortmunder Westfalenhalle, beim anderen während der Oscar-Verleihung im Dolby Theatre in Los Angeles. Schwerer für beide jedoch dürfte wiegen, dass es passiert ist. Wenn ein solch archaischer Akt, wie geschehen, vor Publikum erfolgt, ist Schluss mit lustig, denn er diente dazu, die Geohrfeigten öffentlich zu erniedrigen. Den einen, weil er sich angeblich abfällig über die Rapper-Szene geäußert haben soll, den anderen wegen eines blöden Witzes über die Frau eines seine Schauspielerkollegen.
Eine Ohrfeige mag weniger physische Schäden hinterlassen als ein Faustschlag ins Gesicht, dafür können die psychischen Folgen beträchtlich sein. Scham und Wut brennen in der Regel heißer als die getroffene Wange. Auf diese Weise angegriffen zu werden, da, wo der Körper am schutzlosesten ist und die individuelle Persönlichkeit zugleich am stärksten zum Ausdruck kommt, gilt unter Erwachsenen seit jeher als besonders ehrenrührig. Im Strafgesetzbuch erfüllt die leichte Ohrfeige denn auch den Tatbestand der tätlichen Beleidigung. „Fühlen Sie sich geohrfeigt“ – dieser Satz reichte vor nicht allzu ferner Zeit schon aus, um den Grund für ein tödliches Duell zu liefern.
Kein Wunder also, dass die Empfehlung, die linke Backe auch noch hinzuhalten, sofern man auf die rechte geschlagen werde (Matthäus 5,39), schon für die ersten Christenmenschen zu den am schwersten verdaulichen Lehren des Neuen Testaments zählte. „Auf, Herr, hilf mir, mein Gott! Denn du schlägst alle meine Feinde auf die Backen“, hatte es dagegen noch in Psalm 3 der Bibel mit dem Ausdruck einer gewissen Schadenfreude geheißen.
„Ohrfeige“, „Backpfeife“, „Maulschelle“, „Watschn“, „Klatsche“, „ein Satz warme Ohren“ oder etwas vornehmer „Wangenstreich“ – für den Schlag ins Gesicht, der noch entwürdigender wirkt, wenn er mit dem Handrücken ausgeführt wird (so als wolle man sich nicht auch noch schmutzig machen), existieren zahlreiche Umschreibungen, die nicht verhehlen können, dass es sich um Anwendung von Gewalt handelt. Jemandem feige aufs Ohr zu hauen, hat immer mit der Demonstration von Macht oder Hierarchie zu tun.
Wer ohrfeigt, will das Opfer bloßstellen und signalisieren, dass er hier das Sagen hat. Auch wenn das nur eine Wunschvorstellung ist. Denn Schlagen gilt nicht gerade als Ausweis besonderer Schlagfertigkeit, sondern bedeutet eher ihr Gegenteil. Spaß macht das allenfalls in Spielfilmen, in denen ausgesuchte Ohrfeigengesichter erwartungsgemäß ihrer Bestimmung zugeführt werden.
Schlagen, wenn die Argumente fehlen, kommt auch in der Erziehung einem Armutszeugnis gleich. Von möglichen schwerwiegenden körperlichen Folgen bei Kindern ganz zu schweigen. Eine Ohrfeige kann das Trommelfell platzen lassen, die Halswirbelsäule durch die Drehbewegung verletzen, schlimmstenfalls das Gehirn schädigen und sogar zum Tode führen. Deshalb heißt es im Bürgerlichen Gesetzbuch seit dem Jahr 2000: „Kinder haben ein Recht auf gewaltfreie Erziehung. Körperliche Bestrafungen, seelische Verletzungen und andere entwürdigende Maßnahmen sind unzulässig.“ Dessen ungeachtet hält jeder Sechste in Deutschland etwa Ohrfeigen bei der Kindererziehung nach wie vor für angebracht, wie eine Studie der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie in Ulm, des Hilfswerks Unicef und des Deutschen Kinderschutzbunds ergeben hat.
Ein Mann, der eine Frau ohrfeigt, gilt zu Recht als echter Fiesling. Umgekehrt verhält es sich etwas anders: Knallt die Frau dem Manne eine, wirkt das wie ein Kampf David gegen Goliath, der einem einen gewissen Respekt abringt und den Verdacht nahelegt, der Betreffende habe es wohl verdient. Ohnehin sieht man sowas im Prinzip nur auf der Leinwand, wo der Held die Attacke mit machohafter Gelassenheit erträgt (eine Fliege könnte ihn mehr irritieren) und das Drehbuch als Nächstes einen stürmischen Kuss vorsieht.
Zu einem solchen Happy End kommt es am 7. November 1968 im Berliner Kongresszentrum freilich nicht, wo die CDU gerade ihren Parteitag abhält. Schnellen Schrittes nähert sich Beate Klarsfeld dem Platz von Kurt Georg Kiesinger. Unvermittelt schlägt die damals 29-Jährige Journalistin, die sich für die Aufklärung von NS-Verbrechen engagiert, dem amtierenden Bundeskanzler ins Gesicht, beschimpft ihn als Nazi.
Keine öffentliche Ohrfeige hat in der Bundesrepublik seither für einen größeren Skandal gesorgt. Nicht nur, dass eine Frau einen Mann züchtigte – sie war obendrein auch noch deutlich jünger. Die Kanzler-Klatsche sollte den Deutschen zudem in Erinnerung rufen, dass Kiesinger NSDAP-Mitglied und hoher Beamter im Reichsaußenministerium gewesen war. Dem Strafantrag Kiesingers folgte ein Berufungsverfahren, das mit einer Bewährungsstrafe für Klarsfeld endete.
Zur Ohrfeige gehören folglich immer zwei. Den an sich reichlich unschönen Vorgang hat Wilhelm Busch einmal in Reime gefasst, die einen dann doch schmunzeln lassen. In seiner Bildergeschichte „Balduin Bählamm“ heißt es: „Hier strotzt die Backe voller Saft, / Da hängt die Hand, gefüllt mit Kraft. / Die Kraft, infolge der Erregung, / Verwandelt sich in Schwungbewegung. / Bewegung, die in schnellem Blitze / Zur Backe eilt, wird hier zu Hitze. / Die Hitze aber, durch Entzündung / Der Nerven, brennt als Schmerzempfindung / Bis in den tiefsten Seelenkern, / Und dies Gefühl hat keiner gern. / Ohrfeige heißt man diese Handlung, / Der Forscher nennt es Kraftverwandlung.“