Oscar-Anwärter mit Cate Blanchett Warum der Film „Tár“ so umstritten ist

Düsseldorf · Cate Blanchett als übergriffige Chefdirigentin: „Tár“ ist auch eine Erzählung über die Debatten unserer Zeit. Und nicht alle dürften damit einverstanden sein, wie sie präsentiert werden. Eine Kritik.

 Cate Blanchett (l.) als Lydia Tár. In der Mitte Nina Hoss als Sharon Goodnow.

Cate Blanchett (l.) als Lydia Tár. In der Mitte Nina Hoss als Sharon Goodnow.

Foto: dpa/-

Gut gemeinter Ratschlag vorneweg: „Tár“ von Todd Field schaut man am besten in der Gruppe. Und nach dem Kinobesuch sollte man sich noch zu Bier oder Wein verabreden. Es gibt nämlich garantiert viel zu diskutieren.

Cate Blanchett Der Film erzählt von Lydia Tár, der fiktiven Chefdirigentin der Berliner Philharmoniker (die hier absurderweise von deren Dresdner Kollegen verkörpert werden). Cate Blanchett spielt diese in ihrem Milieu unheimlich mächtige Frau so großartig, dass es verflixt wäre, wenn sie dafür nicht ihren dritten Oscar bekommen würde. Der Aufstieg Lydia Társ wird zu Beginn des Film auf einer Podiumsdiskussion in Manhattan skizziert: Adam Gopnik, der auch im echten Leben Redakteur des Intellektuellen-Magazins „New Yorker“ ist und vor wenigen Wochen tatsächlich ein Interview mit Cate Blanchett veröffentlichte, befragt Lydia Tár. Sie war Schülerin von Leonard Bernstein, leitete die Orchester in Cleveland und Boston und kam schließlich nach Berlin. Nun steht sie vor dem Höhepunkt ihrer Karriere: Ihr biografisches Buch „Tár über Tár“ wird veröffentlicht, und die Einspielung von Mahlers 5. Symphonie steht kurz bevor. Regisseur Todd Field hat diese Rolle eigens für Blanchett geschrieben, und die 53-Jährige gibt der Figur unverbrüchliches Selbstbewusstsein. Sie strahlt die Sicherheit derjenigen aus, die durch die Metropolen der Welt chauffiert wird und längst keinen Widerspruch mehr bekommt.

Narzissmus Man merkt bald, dass für Lydia Tár die Gesetze des Alltags nicht gelten. Sie lebt mit Sharon Goodnow (Nina Hoss) zusammen, Konzertmeisterin der Berliner Philharmoniker. Die beiden haben eine Tochter, wobei Sharon offenbar das Gros der Erziehung übernimmt. Zu Beginn des Film gibt es eine wunderbare Liebesszene. Lydia breitet ihre Mahler-LPs auf dem Boden des mit Büchern, Partituren und Olafur-Eliasson-Kunstwerken eingerichteten Apartments aus. Sie kreist mit dem nackten Fuß darüber, und ins Bild kommt ein Fuß von Sharon. Die beiden berühren einander über den Platten. Mehr Körperlichkeit gibt es nicht in diesem Film, Lydia ist zu unnahbar dafür. Sie wirft ihren Stellvertreter raus, hält ihre Assistentin klein. Sie unterhält Liebesbeziehungen zu Musikerinnen, verspricht Karrieren, lässt die Frauen wieder fallen. Ein anonymes Geschenk verweist auf kommende Verwicklungen: die Erstausgabe von Vita Sackville-Wests tragischem Liebesroman „Challenge“. Lydia zerreißt sie. Die Vermutung liegt nahe, dass das Buch von einer früheren Geliebten geschickt wurde. Deren Selbstmord kommentiert Lydia später mit den lakonischen Worten: „Sie war keine von uns.“

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Identitätspolitik Eine Szene, die dem Film in den USA viel Kritik eingebracht hat, spielt in einem Seminar an der Juilliard School. Lydia Tár unterrichtet dort Studierende, darunter Max, der sich als „pangender“ bezeichnet. Max sagt, er beschäftige sich nicht mit Bach, weil er ihn für misogyn hält. Lydia Tár führt ihn daraufhin vor, lässt nicht von ihm ab, bis er den Saal verlässt. Ein verfälschend zusammengeschnittenes Video der Situation geht viral. Ein im „New Yorker“ erhobener Vorwurf lautet, Regisseur Todd Field zeichne ein spöttisches Porträt des Studenten. Außerdem mache er sich lustig über dessen Anliegen, den Kanon in Frage zu stellen und ein diverseres Lehrprogramm zu installieren.

Vorwürfe Ein anderer Kritikpunkt betrifft die Hauptfigur als solche: Warum wählt Todd Field eine lesbische Frau? Chefdirigentinnen bei großen Orchestern sind noch immer die Ausnahme. Es gibt aber mehrere Beispiele für männliche Dirigenten, denen Fehlverhalten vorgeworfen wird, darunter James Levine, Daniele Gatti und Charles Dutoit, die allerdings jede Schuld von sich weisen. Zu Wort gemeldet hat sich deshalb Marin Alsop, die 2007 zur Chefdirigentin des Baltimore Symphony Orchestra berufen wurde. Alsop ist mit einer Frau verheiratet, und sie lernte wie Lydia Tár bei Leonard Bernstein. Sie hat sich nicht des Missbrauchs schuldig gemacht, und sie übt scharfe Kritik: „Man hatte die Chance, eine Frau in der Rolle einer Dirigentin zu zeigen. Und dann macht man sie zur Täterin. Das bricht mir das Herz.“ Sie fühle sich durch den Film angegriffen als Frau, als Dirigentin, als Lesbe.

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Foto: AP/Jordan Strauss

Satire Was für ein Film ist das nun also? Auf jeden Fall ein eleganter Film, dessen Ausstattung aufsehenerregend ist. Allein die Kostüme von Blanchett und Hoss! Zugleich ein harter Film, an dessen Thesen man sich stoßen kann. Und gerade deshalb ein intensiver Film: Er zwingt das Publikum zur Reflexion. Man hat beim Schauen zunehmend den Geschmack von Bittermandel im Mund. Lydia Tár gerät bald ins Straucheln. Vorwürfe des Machtmissbrauchs, der Lüge, der Übergriffigkeit gefährden ihre Karriere. Sie verliert die Kontrolle, was immer wieder durch Szenen ins Bild gebracht wird, die aus einem Gruselfilm stammen könnten. Nachts tickt ein Metronom im Schrank, beim Joggen schreit jemand im Wald. Ist das nicht eigentlich eine Satire über den durch öffentliche Gelder subventionierten Kulturbetrieb? Über unseren Geniebegriff? Das Ende wirkt denn auch entsprechend böse und giftig. Es gibt kein Mitleid für Lydia Tár.

„Tar“ wird in Zukunft womöglich als maßgeblicher Film geschaut werden, um den Debatten des Jahres 2023 auf die Spur zu kommen. Und er wird gezeigt werden, wenn es darum geht, die Virtuosität von Cate Blanchett zu illustrieren. Am besten taugt dafür die Szene, in der sie jenes Mädchen auf dem Schulhof stellt, das ihre Tochter mobbt. „Ich bin Petras Vater“, sagt Blanchett da auf Deutsch und mit größtmöglicher Eiseskälte. Sie sagt noch mehr, und als sicher darf gelten, dass das Mädchen danach nie wieder jemandem etwas tut.

„Tár“, USA 2022 – Regie: Todd Field; mit Cate Blanchett, Noémie Merlant, Nina Hoss, Sophie Kauer, Julian Glover; 158 Minuten

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