„Die Fabelmans“ Steven Spielberg in Bestform

In „Die Fabelmans“ erinnert sich der 76-Jährige an seine Kindheit. Es gibt in dieser warmherzigen Erzählung unvergessliche Figuren. Und am Ende einen verblüffenden Gastauftritt.

 Michelle Williams (M.) als Mutter Mitzi und Gabriel LaBella (r.) als Sammy.

Michelle Williams (M.) als Mutter Mitzi und Gabriel LaBella (r.) als Sammy.

Foto: AP/Merie Weismiller Wallace

Alle, die diesen Film bisher nicht gesehen haben, sind zu beneiden: Sie haben das Beste noch vor sich. Jene Szene etwa, in der Onkel Boris auftaucht, eine der schönsten Figuren der jüngeren Kinogeschichte. Boris sieht verwegen aus, ein bisschen durchgeknallt, unheimlich auch, er war mal Zirkusdompteur. Er wird in Sammys Zimmer einquartiert, und kurz vor dem Schlafengehen unterhalten sich der alte Mann und der Junge über die Kunst. Man müsse Opfer bringen, sagt Onkel Boris. „Seinen Kopf in das Maul eines Löwen zu stecken, soll Kunst sein?“, entgegnet Sammy. Und dann kommt der Onkel ganz nahe, wird sehr ernst und sagt: „Seinen Kopf in das Maul eines Löwen zu stecken, ist mutig. Ihn heil wieder rauszubekommen, das ist Kunst.“ Der Auftritt dauert vielleicht fünf Minuten. Genug, um dem 87 Jahre alten Schauspieler Judd Hirsch eine Oscar-Nominierung eingebracht zu haben.

Oscars 2024: Alle Nominierungen in den wichtigsten Kategorien
17 Bilder

Das sind die Oscar-Nominierungen 2024

17 Bilder
Foto: dpa/-

„Die Fabelmans“ heißt dieser Film, und sein Regisseur Steven Spielberg erzählt darin von seiner Kindheit und Jugend im Ohio der 1950er- und 60er-Jahre. Spielberg hat natürlich keine Dokumentation gedreht, deshalb heißt er im Film Sammy und nicht Steven, aber es ist doch sein Leben, das hier über die Leinwand huscht. Und vor allem: die Entstehung seiner Leidenschaft fürs Kino.

Sammy ist fünf oder sechs, als seine Eltern ihn mitnehmen in den ersten Film. In Cecil B. DeMilles „The Greatest Show On Earth“ gibt es diesen großen Eisenbahn-Crash, und man muss den jungen Schauspieler sehen, wie er nach Ende der Vorführung im Auto sitzt, wie er guckt und wie es hinter seiner Stirn rattert: Da kommt einer nie wieder aus dem Kinos raus. Natürlich spielt er die Nummer zu Hause nach, mit der Modelleisenbahn und der Kamera seines Vaters Burt (Paul Dano). Der ist Ingenieur und möchte die Vorliebe des Sohnes eigentlich nicht unterstützen. Aber die Mutter Mitzi (Michelle Williams), eine Pianistin, hilft Sammy.

Oscars 2023: Shortlist - diese Filme stehen drauf - Übersicht
Infos

Oscars 2023 – Diese Filme stehen auf der Shortlist

Infos
Foto: dpa/Jae C. Hong

In den frühen, etwas abgedunkelt anmutenden Szenen wird der Grundkonflikt dieser Mittelstands-Familie auf die eleganteste und beiläufigste Art aufgefächert: die Kunst und das Leben. Sammy (Gabriel LaBelle) lernt, dass das Dasein kompliziert sein kann, und dass die Kunst ein Mittel ist, es in den Griff zu bekommen. Als er die Aufnahmen schneidet, die er bei einem Familienausflug gemacht hat, erkennt er in der Vergrößerung, wie vertraut seine Mutter mit Bennie (Seth Rogan) ist, dem besten Freund des Vaters. Bennie wird denn auch der Grund sein, warum die Mutter die Familie verlässt. Man ahnt, welche Lehren einst der echte Spielberg aus der Trennung seiner Eltern zog: Zu viel Licht tut den Dingen nicht gut. Und: Erzähle das Leben so, dass es wirklich das Leben sein könnte, aber ein bisschen schöner, als es in Wirklichkeit wäre.

Oscars 2024: Die Stars mit den meisten Oscars: Überblick
8 Bilder

Diese Stars haben die meisten Oscars

8 Bilder
Foto: AP/Jordan Strauss

„Die Fabelmans“ ist ein Film über das Erwachsenwerden. Es ist eine der stärksten Produktionen Spielbergs in den vergangenen Jahren. Er macht einen jener Filme, die er früher gemacht hat, einen Film wie „E.T.“, und er macht ihn mit dem Wissen eines 76 Jahre alten Mannes, dessen Mutter vor fünf Jahren starb. Mitzi ist das dunkle Herz dieser Erzählung, ihre Melancholie, ihre Sehnsucht grundieren die Handlung und geben der Entwicklung des Kindes etwas Dringliches.

Die Gefahr war groß, dass das ein sentimentaler Film werden könnte, eine melodramatische Erzählung über den Künstler als junger Mann. Doch Spielberg erzählt charmant und intim, er liebt jede seiner Figuren – die Mutter allerdings besonders stark. Zwischendurch mag es einem vorkommen, als kenne man die porträtierte Familie bereits aus anderen Filmen Spielbergs, und das liegt dran, dass er ganz offensichtlich immer nur von sich erzählt hat. Es könnte Thema eines Uni-Seminars werden, wie Spielberg durch Beleuchtung die Atmosphäre des Films steuert, wie groß die Rolle des Lichts bei der Entdeckung des Geheimnisses dieser Familie ist. Und wie sich die anfangs traumhafte Stimmung mit dem Umzug der Familie ins sonnensatte Kalifornien verliert, wo Sammy Mobbing, Antisemitismus sowie Verliebtheit und Verlassenwerden kennenlernt. Und man möchte vor allem Spielbergs frühe Filme bitte gleich noch einmal sehen, um das, was man hier erkannt hat, mit den Vorgängern abzugleichen.

Spielbergs Stellvertreter, der junge Sammy, dreht mit Freunden Gruselszenen und Cowboy-Spektakel, und dass die Schießereien so echt wirken und tatsächlich Feuer aus den Colts zu kommen scheint, liegt daran, dass er das Filmmaterial an Stellen, wo sich ein Schuss zu lösen hat, mit Nadeln einpiekst. Nur die größten und erfolgreichsten Regisseure haben das Recht auf den Final Cut. Darauf also, eine Produktion genau so ins Kino bringen zu können, wie sie sie haben wollen. Niemand quatscht mehr rein, keine Marktanalysten, Studiobosse oder Berater. Spielberg hat dieses Recht, und er hatte es bereits als Schüler: Film ist das Medium, in dem er Kanten rundet, Unglück in etwas Optimistisches umdeutet. Spielberg hat dieses Verfahren immer beibehalten, es trägt auch seinen aktuellen Film.

Oscars 2024: Diese Schauspieler haben keinen Oscar
25 Bilder

Diese Hollywood-Stars haben (noch) keinen Oscar

25 Bilder
Foto: dpa/Jordan Strauss

Einer neben Onkel Boris zweiten unvergesslichen Nebenfigur begegnet man am Ende. Der inzwischen 15-jährige Sammy bewirbt sich bei einem Filmstudio, und sein Gesprächspartner „parkt“ ihn kurz im Büro nebenan. Es ist das Hauptquartier von John Ford, Sammys Idol, und auch für Spielberg einer der größten Regisseure der Geschichte. Der alte Mann mit Augenklappe hat eigentlich keine Lust auf den Jungen, aber er wirft ihm knurrend einen Ratschlag hin: Verlagere den Horizont nach oben ins Bild oder nach unten, das macht Filme spannend. Horizont in der Mitte: stinklangweilig. John Ford wird von „Blue Velvet“-Regisseur David Lynch gespielt, und vielleicht hat man ihn nur deshalb nicht ebenfalls für den Oscar nominiert, weil seine Szene noch kürzer ist als fünf Minuten.

Jedenfalls muss man die auf diese Episode folgende letzte Einstellung von „The Fabelmans“ sehen, um zum wissen, wie stark Spielberg die Begegnung mit dem Meister beeinflusst hat. Es ist, als zwinkerte Spielberg dem Publikum zu. Onkel Boris wäre stolz auf ihn.

„Die Fabelmans“, USA 2022 – Regie: Steven Spielberg; mit Michelle Williams, Paul Dano, Seth Rogen, Gabriel LaBelle, Judd Hirsch; 151 Minuten

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort