Streaming-Dienste Rettet den Abspann!

Netflix und andere Streamingdienste mögen keine Abspänne. Wenn der Zuschauer nicht klickt, werden sie übersprungen. Das ist respektlos. Denn Credits sind Teil des Kunstwerks.

 Droht dem Abspann das Ende?

Droht dem Abspann das Ende?

Foto: Carla Schnettler

Wer sich bei Streamingdiensten wie Netflix Filme und Serien anschaut, wird es bemerkt haben: Abspänne werden dort nicht als essenzieller Teil des Kunstwerks behandelt. Sekunden, nachdem der eigentliche Film beendet ist und die Credits – also die Auflistung der Mitwirkenden an einer Produktion – samt dazugehöriger Musik beginnen, wird dem Zuschauer etwas Neues angeboten, das er schauen möge. Der Abspann schrumpft auf ein kleines Fenster zusammen. Man muss rasch klicken, um ihn in voller Größe doch noch sehen zu können. Ansonsten hagelt es Vorschläge für andere Produktionen. Es ist ein bisschen so, als wolle man Eis essen, aber kurz vor Schluss reißt einem jemand die Waffel aus der Hand. Oder Überraschungseier: Man hat gerade das Spielzeug ausgepackt und möchte sich der Schokolade widmen. Aber die wurde bereits entsorgt.

Abspänne zu beschneiden ist respektlos. Denn der Abspann hat eine wichtige Bedeutung innerhalb der Filmerfahrung. Zunächst einmal lässt er die Menschen zu ihrem Recht kommen, die mitgeholfen haben, aus einer weißen Leinwand ein Fenster in eine andere Wirklichkeit zu machen. Man liest die Namen, vielleicht hat man den einen zufällig noch von einem anderen Film im Kopf, so ergeben sich ästhetische Zusammenhänge. (Und irgendwann fragt sich jeder Kinogänger: Was ist eigentlich ein Best Boy? Antwort: Der Assistent des Oberbeleuchters.)

Außerdem dient der Abspann als Transitraum für den Zuschauer. Als Rampe aus der Filmhandlung zurück in die Wirklichkeit. Als Brücke, Schleuse, Wartezimmer. Die Minuten in der Dunkelheit noch rasch nutzen, um die Tränen zu trocknen. Durchatmen. Vielleicht mit dem Unhappy Ending kämpfen. Diese Momente gewähren die Streamingdienste dem Zuschauer nicht. Sie sind nicht so sehr an seinem Herzen interessiert, sondern an seinen Augäpfeln. „Meine schöne Fantasie, meine Schaltstellen sind hinüber“, singt Nina Hagen in „TV-Glotzer“.

Der britische Komponist Daniel Pemberton schrieb die Musik für den Netflix-Film „Enola Holmes“. Er habe die Filmmusik für die zweistündige Produktion so aufgebaut, schreibt er im „Guardian“, dass sie im Abspann zur Vollendung komme. Der Spannungsbogen runde sich dort. Leider bekomme das kaum jemand mit, weil Netflix das Erlebnis beschneidet. Würde man unter diesen Umständen „Die Reifeprüfung“ schauen, bekäme man „Sound Of Silence“ von Simon & Garfunkel nicht mit. Bei „The Social Network“ würde das ironische „Baby, You’re A Rich Man“ von den Beatles fehlen. Und bei „Straight Outta Compton“ über die Rap-Gruppe N.W.A. der Titelsong.

Der Abspann ist Beiwerk, Paratext. Aber nur durch ihn wird aus bewegten Bildern ein Kinofilm. Er bezeichnet die unbestimmte Zone zwischen Illusion und Wirklichkeit. Insofern dient er als Resonanzraum: Man schwingt gedanklich aus. Daniel Pemberton nennt ein Beispiel, das verdeutlicht, wie wichtig diese Funktion sein kann: „Schindlers Liste“. Direkt nach Nennung des Namens von Regisseur Steven Spielberg wird bei Netflix das Bild kleiner, und wer Pech hat, bekommt nach drei Stunden Holocaust-Drama einen Adam-Sandler-Film zum Weiterschauen angeboten. Am Abspann-Problem hängt die Frage, wie man Kunst präsentieren und erleben möchte. Streamingdiensten sollten Inhalte wichtig sein, sie sind schließlich auch kanonbildende Archive. Aber der Umgang mit den Credits lässt vermuten, dass jede Produktion dann doch nur als Ware betrachtet wird. Konsum statt Kontemplation.

Vielleicht ist jedoch Rettung in Sicht. Der Amerikaner Mark Boszko hat eine Online-Petition gestartet, die bereits 11.000 Menschen unterzeichnet haben. Sie soll Netflix dazu bewegen, Credits ohne Unterbrechung zu zeigen. Nicht wer weiterschauen möchte, soll künftig klicken müssen, sondern wer es nicht möchte. Technisch wäre das mit einem Häkchen in den Einstellungen leicht zu bewerkstelligen. Man muss es nur anbieten wollen. Und auch die Filmindustrie hilft mit, den Abspann aufzuwerten, indem sie Spielszenen hinter die Abspänne setzt. Bei Marvel-Produktionen ist das oft so. Wer vorher gegangen ist oder wegklickt, verpasst eine Pointe und möglicherweise einen Moment des Staunens oder Schmunzelns. Also genau das, wofür man Filme schaut.

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