Coming-of-Age-Film „Kokon“ Kalifornien liegt am Kottbusser Tor

Der Berlin-Film „Kokon“ ist eine großartige Ballade über das Erwachsenwerden. Er erzählt vom Sommer der ersten Liebe. Schauplatz ist die Gegend um das Kottbusser Tor.

 Über den Dächern von Kreuzberg: Nora (Lena Urzendowsky, l.) mit ihrer großen Schwester Jule (Lena Klenke, M.) und deren bester Freundin Aylin (Elina Vildanova).

Über den Dächern von Kreuzberg: Nora (Lena Urzendowsky, l.) mit ihrer großen Schwester Jule (Lena Klenke, M.) und deren bester Freundin Aylin (Elina Vildanova).

Foto: dpa/-

Die Sexualkunde-Lehrerin meint es gut, als sie jeden Schüler zum Einzelgespräch bittet: Vielleicht gebe es ja Fragen, die man nicht unbedingt vor der ganzen Klasse stellen möchte. Irgendwann ist auch Nora an der Reihe, sie fühlt sich ein bisschen gedrängt, und dazu muss man wissen, dass Nora unheimlich rührend ist, so arglos und unschuldig. Man schließt sie nach wenigen Filmminuten ins Herz. Nora wirkt überfordert vom Jungsein, von ihrem Körper und dieser ganzen Sache mit Zuneigung und Sehnsucht. Und weil das nun mal dasjenige ist, was sie gerade am meisten beschäftigt und irritiert, sagt sie nach einer Weile diesen Satz zu ihrer Lehrerin: „Ich finde andere Mädchen manchmal so schön.“ Man möchte sie umarmen dafür, wie sie das sagt, aber die Lehrerin schaut bloß belustigt und entgegnet etwas, das sich grob mit drei Worten zusammenfassen lässt: Das gibt sich.

Nora ist 14, und sie ist die Hauptfigur in dem sehr schönen Kinofilm „Kokon“ von Leonie Krippendorff. Die 34 Jahre alte Regisseurin erzählt von Berlin, genauer: von der Gegend um den als sozialer Brennpunkt geltenden U-Bahnhof Kottbusser Tor in Kreuzberg. Der Ton ist rau, man nennt sich „Bitch“ und „Spermarutsche“, und die Langeweile scheint unendlich.

Es ist der heißeste Sommer seit Beginn der Aufzeichnungen, und in einem Hochhaus mit Blick auf die U-Bahn teilen sich Nora und ihre große Schwester Jule ein Zimmer. Einen Vater gibt es nicht, und die Mutter ist meistens fort. Sie sitzt dann am Tresen ihrer Lieblingskneipe, und morgens bleibt sie mit Kopfschmerzen im Bett. Als einer von Jules Freunden beim „Fingerkloppe spielen“ in der Shisha-Bar Nora aus Versehen die Hand bricht, kommentiert die Mutter den Gips so: „Ist doch so eine schöne Farbe. Das Blau, das steht dir gut.“

Der Dichtersänger Morrissey hat mal gesagt, dass sich seine Jugend angefühlt habe wie das Warten auf einen Bus, der nicht kommt. Das ist ein sehr guter Satz, er passt zu Noras Leben. Sie züchtet Raupen in Einweckgläsern, die sie in ihrem Nachttisch aufbewahrt. Sie geht fast jeden Tag schwimmen, und zwischen die Tage geschnitten sind Aufnahmen aus ihrem Video-Tagebuch. „Draußen ist es genau so warm wie in meinem Körper“, so kommentiert sie aus dem Off die Hitze, das ist der Nora-Sound. Die 20-jährige Schauspielerin Lena Urzendowsky, die wenige Tage nach dem Abitur in die Dreharbeiten einstieg, spielt das fein und präzise.

„Kokon“ verbindet Sozialrealismus und Poesie, die Dokumentation „Prinzessinnenbad“ aus dem Jahr 2007 ist eine Referenz, und als schließlich Romy auftaucht, glaubt man daran, dass der Bus jetzt vielleicht doch noch kommt. Jella Haase tariert Lässigkeit und Warmherzigkeit perfekt aus, ihre Romy hilft Nora, als die im Sportunterricht mit Blutfleck in der Hose dasteht und alle nur lachen oder betreten auf den Boden blicken. Irgendwann leuchtet eine neue Nachricht auf dem Display von Noras Handy auf: „Gehst Du heute Abend mit mir schwimmen?“ Auf der Leinwand ist dann die Sonne zu sehen, sie flimmert zwischen Blättern hindurch, man muss blinzeln, der Blick verschwimmt, und so soll Sommer sich anfühlen und Verliebtheit auch: bisschen dizzy sein, bisschen träumen. Kalifornien in Kreuzberg, Paris am Kottbusser Tor.

Nora erlebt das, als sei sie geworfen in dieses Leben, als sei sie rein zufällig hier. Sie lebt in Zeitlupe, sie staunt, und sie guckt immer, als wäre sie gerade in etwas Weiches getreten. Man entwickelt ein intensives Verhältnis zu dieser Figur, was vielleicht auch daran liegt, dass die Kamera oft so nah an ihr Gesicht fährt. Man will sie schützen vor dem, was kommt, vor der Beklommenheit und den Verletzungen, aber das geht natürlich nicht.

Romy und Nora teilen sich ein Paar Kopfhörer. Sie springen in den See. Sie umarmen sich und sind einander ganz nah. Aber Romy küsst dann David, und allein das tut schon weh, aber David ist außerdem der Schwarm von Noras Schwester Jule, und die stellt Nora denn auch ein Ultimatum: „Würde mich krass verletzten, wenn du weiter mit Romy chillst.“

Das ist ja das Prinzip des Genres Coming of Age, dass man miterlebt, wie jemand, der zunächst zu Gast zu sein scheint auf der Welt, allmählich ankommt, Raum nimmt und Selbstbewusstsein entwickelt. In „Kokon“ stehen dafür symbolisch die Raupen, aus denen am Ende Schmetterlinge werden. Es hätte dieses überdeutliche Motiv allerdings gar nicht gebraucht. Nora sagt nämlich zu Beginn des Films schon alles selbst: „Wir sind wie Fische im Aquarium. Wir schwimmen immer im Kreis. Von der einen Seite des Kotti zur anderen und wieder zurück. So lange, bis wir irgendwann aus dem Becken springen.“

Jedenfalls: Man schaut Nora sehr gerne beim Springen zu.

Kokon, Deutschland 2020 – Regie: Leonie Krippendorff, mit Lena Urzendowsky, Jella Haase, Lena Klenke, FSK ab 12, 94 Min.

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