Die besten Filme aller Zeiten Platz 1: Hitchcocks "Vertigo"

Düsseldorf · Der romantische Thriller ist der Siegerfilm unserer subjektiven Bestenliste. Weil er spannend ist, bedrohlich - und meisterlich von der Macht des Kinos erzählt.

Wahrscheinlich ist Alfred Hitchcock der größte Regisseur aller Zeiten, weil er mit seinen Werken nicht die Wirklichkeit einfangen wollte. Er hat das Kino besser verstanden: als Raum für Illusionen, als Fluchtort, an dem der Mensch verführt, betrogen, in Scheinwelten verstrickt werden will, um sich zu unterhalten. Und um seine Wirklichkeit besser zu verstehen, später, bei der Rückkehr ins Leben. In keinem Film ist das Motiv des Phantasmas, der Täuschung und des Selbstbetrugs virtuoser inszeniert worden als in "Vertigo". Dieser schwarz-romantische Thriller ist der größte Film aller Zeiten, weil er auf raffinierte Weise vom Kino selbst erzählt, von der Manipulierbarkeit des Sehens, der Verführbarkeit des Voyeurs und weil er zugleich ein melancholischer, todessehnsüchtiger, packender Krimi ist, in dem vieles anders scheint als es ist - und der Zuschauer in der Schwebe bleibt. Unter ihm der Abgrund.

Im Suspense, der künstlich geschaffenen Spannung im dunklen Kinosaal, erweist sich ja die wahre Allmacht des Regisseurs: Er legt die Indizien aus, lenkt den Blick, konstruiert die Bilder und lässt den Zuschauer hängen, so lange er will. Und dann kann eine Geschichte auch so löchrig erzählt und so abenteurlich konstruiert sein wie "Vertigo". Hitchcock hat mit diesem Werk aus dem Jahr 1958 vorgeführt, wie viel Expressionismus sich ein wahrer Meister des Suspense leisten kann. Er muss die Motive, Bilder, musikalischen Leitthemen seiner Geschichte nur so bezwingend verweben, dass der Zuschauer darauf sicher in die Geschichte gleitet. Und die größte Künstlichkeit für wirklich nimmt.

Man hat in Hitchcock lange den netten Krimi-Onkel gesehen, der in unscheinbaren Momenten in seinen Filmen auftaucht und mit Werken wie "Bei Anruf Mord", "Immer Ärger mit Harry", "Psycho" oder "Die Vögel" ein schockierwilliges und angstlustiges Publikum mit raffinierten Geschichten und modernen Effekten das Gruseln lehrte. Hitchcock wusste sie zu inszenieren, die Furcht vor dem, was nicht passiert. Und dann eben doch, nur anders.

Dabei ist der wirklich spannende Hitchcock der Regisseur der Obsessionen, der sadistischen Spiele und der verdrängten Sehnsüchte. Davon handelt "Vertigo", dieses beunruhigende, nekrophile Meisterwerk über einen Mann, der vom Bild einer Frau besessen ist und lieber einer Illusion nachhängt, als es in der eigenen Wirklichkeit auszuhalten. Hitchcock erzählt die Geschichte zunächst aus der Perspektive des heimlichen Beobachters. Scottie, der Kriminalist mit Höhenangst, fühlt sich schuldig am Tod eines Kollegen, der in die Tiefe stürzte, und quittiert den Dienst. Er übernimmt den Auftrag, die Frau eines Freundes zu observieren. Denn Madeleine hat die Todessehnsucht befallen. Es zieht sie an Orte jenseitiger Romantik, auf den Friedhof, in eine spanische Mission, ans Meer. Als sie sich von den Klippen stürzen will, kann Scottie sie noch retten und verliebt sich in sie. Doch als sie im nächsten Wahnschub auf einen Glockenturm steigt, versagen dem Retter die Kräfte. Die Höhenangst holt ihn ein, die Geliebte stürzt vor seinen Augen in die Tiefe. Dass das alles eine Inszenierung ist, um den armen Scottie zum Zeugen zu machen und einen Mord zu vertuschen, verrät Hitchcock schon bald. Auf den konstruierten Kriminalfall kommt es ihm nicht an, sondern auf die sadistische Geschichte, die dann beginnt: Noch in tiefer Trauer begegnet Scottie jener Frau, die sich für Madeleine ausgab. Judy ist viel gewöhnlicher als jene, die sie so perfekt spielte. Doch Scottie klammert sich an die Ähnlichkeit. Er zwingt Judy, ihre Rolle wieder anzunehmen, sich anders zu kleiden, die Haare zu färben, wieder Madeleine zu sein. Und Judy will geliebt werden, also spielt sie mit, zwingt sich, als Falsche wieder die Richtige zu werden - das Liebesobjekt des Mannes. Natürlich führt das endgültig in den Abgrund.

"Vertigo" handelt von der leeren Illusion romantischer Liebe, von Betrug und Selbstbestrug. Und es sind die Bilder, die den Menschen zum Verhängnis werden. Sie lassen ihre Sinne täuschen, willigen ein in ein zwanghaftes Spiel mit Identitäten, weil sie nur mit der Illusion weiterleben können. Weil das Erdachte für sie das Lebenswertere ist. Die Kunst obsiegt. Darin steckt die Liebeserklärung an das Kino.

Hitchcock (1899 - 1980) selbst brauchte das Kino, um der Obsessionen Herr zu werden, die ihn antrieben. Als Regisseur durfte er die Frauen manipulieren, die er für seine Filme wählte, doch trieb er das Spiel oft weit darüber hinaus. Für Kim Novak, die in "Vertigo" so frappierend zwei Frauentypen verkörpert, die vornehme Unnahbare mit dem platinblonden Haar und die romantische Dralle mit der Fähigkeit zur Leidenschaft, ließ Hitchcock gleich eine komplette Garderobe schneidern, die sie auch privat tragen sollte. Da verwischte er selbst die Grenze zwischen Wirklichkeit und Fiktion und machte James Stewart zu einem seiner schwachen Helden, gehemmt durch seine Höhenangst, zutiefst melancholisch als er die Geliebte verliert. Wie schrecklich patent wirkt dagegen Barabara Bel Geddes als Scotties frühere Verlobte Midge. Mit riesiger Brille auf der Nase, schneidert sie in ihrem Apartment Haut Couture und gibt dem verzweifelten Scottie naseweise Ratschläge. Sie ist ganz moderne Frau, berufstätig, unabhängig, pragmatisch. Sie lebt in der Realität - und ist damit gänzlich resistent gegen die Wahnvorstellungen, in die Hitchcock seine liebsten Figuren führt.

Mit Techniken, wie dem später so benannten Vertigo-Effekt, der durch entgegengesetzte Bewegungsrichtungen von Kamera und Zoom auch optisch Schwindelgefühle erzeugt, hat Hitchcock Filmgeschichte geschrieben. "Vertigo" ist mit seinen Farbfiltern, Traumsequenzen und erzählerischen Sprüngen ein expressionistisches Werk. Der Film kommt zwar daher wie ein gewöhnlicher Thriller, doch in Wahrheit ist am Ende alles offen, war Madeleine vielleicht nur eine Fantasie, die Wunschgestalt eines Trauernden.

So entlässt Hitchcock seine Zuschauer zutiefst verunsichert. Wie nach dem Erwachen aus einem beängstigenden Traum, der zu viele Wahrheiten enthielt. Hitchcock war der Größte. Der Meister des Suspense.

(dok)
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