"Sein Bruder" im Angesicht des Todes

Am Anfang und am Ende ist der Mensch nur ein Körper; in die Welt gebracht, um zu sterben. Die Körperlichkeit, ihre unaufkündbare Körperverhaftung der Menschen hat niemand so erbarmungslos, doch zugleich kunstvoll in den Mittelpunkt seines Interesses gerückt wie Patrice Chereau.

Am Anfang und am Ende ist der Mensch nur ein Körper; in die Welt gebracht, um zu sterben. Die Körperlichkeit, ihre unaufkündbare Körperverhaftung der Menschen hat niemand so erbarmungslos, doch zugleich kunstvoll in den Mittelpunkt seines Interesses gerückt wie Patrice Chereau.

Der französische Regisseur provozierte 2001 in seinem Berlinale-Gewinnerfilm "Intimacy" das Publikum mit der sexuellen Beziehung eines Paars, 2003 nun zeigt er auf quälende Weise das frühe Sterben eines Mannes.

"Sein Bruder" ist der Titel des neuen Werks, für das Chereau bei den diesjährigen Berliner Filmfestspielen mit dem Silbernen Bären für die beste Regie ausgezeichnet wurde und nun ab 6. November in die Kinos kommt. Es ist ein stiller, unaufwendiger, ganz ohne aufgesetzte Dramatik arbeitender, gerade darum aber besonders eindrucksvoller Film, der dem Betrachter viel abfordert. Denn es ist nicht leicht, dem Dahinsiechen und Verfall eines noch jungen Männerkörpers zuzuschauen, auch wenn klar ist, dass der herausragende Darsteller Bruno Todeschini nur auf der Leinwand dem Tod verfällt.

Der gebürtige Schweizer spielt jenen Thomas, für den es keine Rettung gibt, aber eine späte Begegnung mit seinem Bruder Luc, der ein ganz anderes Leben führt. Luc, verkörpert von Eric Caravaca, ist schwul und hat sich von seiner Familie abgewandt. Nur widerstrebend nimmt er die Verbindung zu seinem bereits todkranken Bruder auf, nur widerstrebend lässt er sich mit dem Leid konfrontieren, dem Thomas ausgeliefert ist. In einer ebenso zentralen wie quälend langen Szene des Films wird quasi dokumentarisch gezeigt, wie die Krankenschwestern Thomas zur Präparation für eine Operation die Haare vom Leib entfernen - er wird geschoren wie ein Opferlamm.

Realistik mit Tiefgang

Es ist die hohe Kunst Chereaus, auf solche Vorgänge nicht nur einfach die Kamera zu richten, sondern die ihnen innewohnende Tragik und Symbolik auch zu vermitteln, im Fall dieser Szene einfach mit ihrer Unerbittlichkeit des genauen Beobachtens. Der Blick des Franzosen auf die Körper - ob beim Sex, ob beim Sterben - mag schockieren oder peinigen: Doch es ist stets ein offener, zärtlicher Blick, der den Betrachter anzurühren vermag. Chereau ist bekennender Schwuler, seine Darstellung von Erotik zwischen Männern war schon in dem frühen Film "Der verwundete Mann" von 1983 faszinierend. Diese Qualität kommt auch der Darstellung des Verhältnisses zwischen den Brüdern zugute.

Hier finden sich zwei im Angesicht des Todes, die sich schon verloren hatten. Was Luc erst als Zumutung empfindet, wird ihm zunehmend zur Obsession. Er wird seinen Bruder überleben, aber er wird nach dessen Tod ein anderer sein. Auch wer sich diesen schwierigen und schwermütigen Film anschaut, wird ihn vielleicht ein wenig anders verlassen, wird mehr vom Sterben und damit auch mehr vom Leben wissen. Patrice Chereau hat einen kleinen Film gedreht, der großes Kino ist. Denn welch größere Themen hätte das Kino zu bieten als die Liebe und den Tod?

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