Kino-Kritik Schrecklich wie die Wirklichkeit

Düsseldorf (RP). In einer anderen Welt wären Ciro und Marco Lausbuben, freche Lümmel mit Segelohren und Neugier auf das Leben, Pinocchios. Doch die beiden wachsen in Neapel auf, in einem verrottenden Terrassenhochhaus, in dem die Armen hausen, gefälschte Designerwaren produzieren, mit Drogen dealen, morden, alles nach den Regeln der Mafia.

Szenen aus "Gomorrha"
15 Bilder

Szenen aus "Gomorrha"

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An solchen Orten träumen Jungs davon, selbst Bosse zu werden. Und so klauen Ciro und Marco Waffen, überfallen auf eigene Faust eine Spielhalle, liegen bald tot am Strand. Und als ein Bagger die Körper der beiden einfach wegschaufelt, ist im Dunst am Horizont der Vesuv zu sehen, fahles Symbol des Italiens, das die Touristen lockt.

Doch solche Ausblicke gewährt Matteo Garrones Film "Gomorrha — Reise ins Reich der Camorra" nur selten. Es ist ein Film der Nahaufnahmen, der mit dokumentarischer Unerbittlichkeit das Leben der Menschen in dieser triefenden Betonruine beobachtet, diesem Komplex der Hoffnungslosigkeit mit seinen vermüllten Gängen und rostenden Treppen, die nirgends hinführen. Ja, es ist ein Ort von biblischer Verkommenheit, den der Zuschauer ansehen muss, ein Ort, von dem man sich wünscht, es gäbe ihn nicht

Doch dieses Ausweichen erlaubt "Gomorrha" nicht. Zwar ist der Film fiktiv, doch der Drehort ist es nicht. Garrone hat im realen Neapel, im Stadtteil Scampia gefilmt hat Menschen aus der Betonhölle vor die Kamera geholt und erzählt Episoden aus einem Reportagebuch von Roberto Saviano, der seine Geschichten aus der neapolitanischen Wirklichkeit gegriffen hat.

Und so lässt sich dieser Film nicht mit dem schaurigen Kitzel konsumieren, mit dem man in anderen Mafiafilmen dem blutrünstigen Gegeneinander der Clans folgt, den kitschigen Reichtum der Paten belächelt und das Schicksal ihrer schwächlichen Söhnchen vorausahnt. "Gomorrha" ist keine Folklore. Der Film zeigt eine existierende Welt, die von Gier und Angst beherrscht ist. Ständig ist Geld im Bild, gebündelt, gerollt, blutbespritzt. Und Drogen. Familien sitzen um den Abendtisch und portionieren den weißen Stoff, als sei das die gemütliche Heimarbeit von heute. Alles scheint pervertiert in diesem Gomorrha. Weil das Recht des Stärkeren ein willkürliches Gesetz ist. Und nichts das pure Gegeneinander zähmt.

Erzählt werden fünf Episoden, die unverbunden bleiben. Totòs Geschichte etwa, der für seine Mutter Lebensmittel austrägt, bis auch er zu den Jungs gehören will, die sich mit Goldketten behängen und in aufgemotzten Kleinwagen an den Mädchen vorbeicruisen. Also trägt er bald Drogen aus. Und als die anderen aus seinem Clan von ihm verlangen, als Köder bei einer der Kundinnen seiner Mutter zu klopfen, lässt er die Nachbarin hineinlaufen in ihren Tod.

Oder Francos Geschichte. Der Geschäftsmann bringt Giftmüll aus dem Norden im Umland von Neapel unter. Und wenn die Chemikalien aus den maroden Fässern seine Fahrer verätzen, setzt er eben Romakinder ans Steuer, die Kissen brauchen, um aus dem Führerhaus zu sehen. Dass in der ganzen Umgebung selbst die Pfirsiche zu stinken beginnen, rührt ihn weiter nicht. Es sei ja nicht sein Müll, sagt Franco. Don Ciro ist da ehrlicher. Er weiß, dass er Teil des Systems ist, wenn er Mafia-Renten für die Angehörigen von Ermordeten und Inhaftierten austrägt. Als sein Clan sich spaltet, steht er plötzlich zwischen den Fronten. Der Buchhalter legt sich eine Schussweste zu, aus dem besonnenen Einzelgänger wird ein Beinah-Toter auf der Flucht — und ein Verräter, der versucht, die eigene Haut zu retten.

"Ich habe ,Gomorrha' angelegt wie eine Reportage über Dschungeltiere", hat Regisseur Garrone über seinen Film gesagt. Tatsächlich lässt der Film Sehnsucht nach Zivilisation aufkommen, nach ein wenig Menschlichkeit inmitten dieses gewaltverseuchten Alltags. Doch spürt der Zuschauer sofort die Hilflosigkeit solcher Empfindungen angesichts der Unerbittlichkeit, mit der die brutalen Mechanismen im Betonkomplex funktionieren, Alltag sind.

Und das ist vielleicht das erschreckendste an "Gomorrha". Gezeigt wird kein Inferno nach irgendeiner Superkatastrophe, keine pessimistische Zukunftsvision, kein Ausnahmefall. Dieses Gomorrha ist am Rande Europas entstanden — am Rande eines Systems, in dem so viele Menschen so viel besser leben — und lieber die Augen verschließen vor Orten wie diesem Scampia.

"Gomorrha" lässt dieses Wegblicken nicht zu. Er nutzt die Ästhetik des Dokumentarischen, um nicht als Fantasie abgetan zu werden. Wahrscheinlich ist es an der Zeit für diesen neuen Realismus.

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