Film-Kritik Psychoduell am Flügel

(RP). Von einer Frau am Klavier geht eine geheimnisvoll anziehende Wirkung aus. An keinem anderen Instrument lässt sich die erzeugen. Eine Trompete oder Flöte vor dem Gesicht behindert die Mimik, eine Geige am Hals die Bewegung des Oberkörpers. Dagegen ermöglicht das Klavier eine expressive, bei Bedarf exaltierte Körpersprache.

 Catherine Frot als labile Pianistin und Julie Richalet als „das Mädchen, das die Seiten umblättert“.

Catherine Frot als labile Pianistin und Julie Richalet als „das Mädchen, das die Seiten umblättert“.

Foto: ALAMODE FILM, AP

Gegenüber ihren männlichen Kollegen haben Pianistinnen zudem noch den Kleidungsvorteil: Die Körpersprache des Mannes bleibt unter seinem dunklen Anzug unsichtbar, anders als die der Frau in einem enganliegenden Abendkleid.

In der Rolle der Konzertpianistin Ariane Fouchécourt trägt Catherine Frot fast nur enganliegende Kleider. Gertenschlank und das Haar hochgesteckt, vermittelt sie die Arroganz und eiskalte Perfektion ihrer Figur ebenso wie deren Zerbrechlichkeit. Man achtet kaum auf ihre Finger beim Spiel, so sehr fasziniert das Ver- und Entkrampfen ihres Oberkörpers.

Ariane leitet eine Aufnahmeprüfung am Konservatorium, zu der die zehnjährige Melanie (Julie Richalet) erscheint. Zunächst läuft alles gut. Doch mitten in Melanies Spiel betritt eine fremde Frau den Raum und bittet Ariane um ein Autogramm. Eine Unverschämtheit, Ariane müsste die Frau hinauswerfen. Stattdessen gibt sie ihr das Autogramm. Melanie fühlt sich gedemütigt, sie verspielt sich, fällt durch. Ende des Prologs.

Zehn Jahre später ist Melanie (Déborah Francois) eine hübsche junge Frau von unterkühltem Sex-Appeal. Sie arbeitet in einer Anwaltskanzlei, deren Chef (Pascal Greggory) der Ehemann von Ariane ist. Berechnung oder Zufall? Wir erfahren es nicht, aber Melanie lässt sich nicht zweimal bitten, als Monsieur Fouchécourt ihr anvertraut, er und seine Frau seien mit der Erziehung des 12-jährigen Sohns Tristan überfordert. Der Junge braucht ein Kindermädchen.

Was jetzt passiert, erinnert an Thriller wie "Eine verhängnisvolle Affäre" und "Die Hand an der Wiege": Ein blondes Biest erschleicht sich das Vertrauen einer Familie, um einen Racheplan umzusetzen. Die Stärke von Denis Dercourts Film liegt darin, dass Melanie bis zuletzt undurchschaubar bleibt. Vielleicht will sie Ariane zerstören, vielleicht auch nur näher kennen lernen. Als Tochter eines Metzgers weiß sie, wie man Tiere tötet, und man hat Angst um Tristans Lieblingshenne - und um den Jungen selbst: Im Schwimmbecken drückt Melanie seinen Kopf unter Wasser, und sie bringt ihm heimlich Klavierstücke bei, die die Sehnen seiner Hand überlasten. Wird sie den Ehemann verführen oder gar Ariane selbst? Ariane ist seit einem Autounfall labil und tritt nicht mehr auf, erst mit Melanie als das Mädchen, das die Seiten umblättert, gewinnt sie ihre alte Kraft zurück und plant ein Comeback. Wird Melanie bei einem wichtigen Konzert die Seiten falsch umblättern? All das erwartet und befürchtet man, aber es kommt anders. "Das Mädchen, das die Seiten umblättert" ist kein gewöhnlicher Thriller, sondern eine präzise Studie emotional gehemmter Menschen, die sich nur beim Musizieren ausdrücken können.

Denis Dercourt kennt das Milieu, der Sohn einer Klavierlehrerin unterrichtet Bratsche und Kammermusik am Conservatoire Nationale in Strasbourg. Die musikalische Auswahl ist erlesen, besonders ein Stück von Schostakowitsch ("Trio Op. 67 No.2") geht unter die Haut. Von passender formaler Strenge ist die Bildgestaltung. Dercourt erlaubt sich keine gewagten Farbspiele, keine rasanten Schnitte. Mit dem Medium zu spielen, wäre ein Verrat an seinen Figuren. Ariane und Melanie reden bis zulezt nicht offen über ihre Gefühle, das macht ihre Situation so beunruhigend - genügend Stoff für eine Fortsetzung.

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