„Lieber Thomas“ Das wilde Leben eines Lyrikers
Regisseur Andreas Kleinert bringt das turbulente Leben des unermüdlichen Provokateurs Thomas Brasch in die Kinos und schafft eine sehr sehenswerte Biografie.
„Bleiben will ich, wo ich nie gewesen bin“ – es gibt keinen schöneren, knapperen, spröderen, tragischeren und tiefsinnigeren Satz, der das Leben Thomas Braschs in all seiner Widersprüchlichkeit besser auf den Punkt bringen könnte. Natürlich stammt der Satz von Brasch selbst – dem begnadeten Lyriker, manischen Schriftsteller, erfolgreichen Filmregisseur, dem unermüdlichen Provokateur, Sohn eines hohen SED-Funktionärs und Wandler zwischen Ost und West, der in beiden Systemen die Konfrontation suchte und in keinem heimisch werden konnte.
Braschs Biografie ist einerseits wie geschaffen für das Kino. Im Zentrum steht ein dramatischer Vater-Sohn-Konflikt, in dem sich die NS-Vergangenheit, der kalte Krieg, der enttäuschte Traum vom Sozialismus und der Graben zwischen den Generationen spiegeln. Drumherum oszillieren leidenschaftliche Liebesgeschichten, wilde Partys in beiden Teilen Berlins, politische Gefangenschaft, das Ringen eines Künstlers um Provokation und Anerkennung.
Andererseits ist es ein Film, der das widersprüchliche, ungezügelte Leben des Thomas Brasch in die geordneten Bahnen eines Narrativs lenken will, per se zum Scheitern verurteilt. Nicht umsonst hat sich Brasch selbst ein Leben lang geweigert, die eigene Biografie zum Gegenstand einer Erzählung zu machen. Aber Andreas Kleinert hat es trotzdem gewagt und seinem grandiosen „Lieber Thomas“ gelingt es, nicht nur den Lebenslauf, sondern den Geist des Titelhelden in sich aufzusaugen. Der militärische Drill, das grausame Mobbing, das Gefühl der eigenen Ohnmacht in einer Kadettenanstalt sind prägende Kindheitserfahrungen für Thomas, der als junger Mann folgerichtig rebelliert.
Auch an der Filmhochschule legt er sich mit den dortigen Autoritäten an. Nach dem Mauerbau weht auch durch die DDR der Wind des Aufbegehrens gegen verkrustete Strukturen. Als die Truppen des Warschauer Pakts 1968 in die CSSR einmarschieren, wollen Thomas und seine Freunde nicht tatenlos zusehen. Handgeschriebene Flugblätter mit Parolen werden nachts hastig in die Briefkästen gestopft. „Staatsfeindliche Hetze“ nennt sich so etwas im Jargon der DDR-Justiz. Der Vater (Jörg Schüttauf) verrät den Sohn selbst an die Stasi. Nach 77 Tagen Einzelhaft wird Thomas auf Bewährung entlassen und muss sich fortan als Fräser in der Produktion bewähren.
Nach Feierabend schreibt er unermüdlich weiter Gedichte, Prosa und Dramen, die bis auf einen schmalen Lyrikband nicht veröffentlicht werden. Schließlich gibt er auf, stellt einen Ausreiseantrag und siedelt mit seiner Frau Katarina (Jella Haase) 1976 nach Westberlin. Dort steigt er innerhalb kürzester Zeit zum literarischen Rockstar auf, der sich allerdings in den Medien strikt weigert, das Land, aus dem er gekommen ist, zu diskreditieren.
Andreas Kleinert und Drehbuchautor Thomas Wendrich pressen Braschs Biografie nicht in eine Stationen-Dramaturgie, sondern erschafft einen hochdynamischen Erzählfluss, in dem Traumsequenzen und Gedichtzeilen eingeflochten werden. Dabei entwickelt der Film ein wunderbar atmosphärisches Gespür für das Leben der Künstler-Szene in den 1960er-Jahren der DDR, wo auf wilden Feiern im unsanierten Altbau getanzt, rezitiert, gesoffen, gesungen und debattiert wurde. Noch nie sah der Osten so sexy aus wie in Kleinerts Film, der die Tristesse-Stereotypen kunstvoll aus den Angeln hebt.
Ausstattung, Kamera, Schnitt – „Lieber Thomas“ überzeugt in allen Disziplinen, aber es ist vor allem die hinreißende Besetzung, die dem historischen Film seine ungeheure Lebenskraft verleiht. Albrecht Schuch füllt jenseits aller Tour-De-Force-Allüren das breite Spektrum zwischen Euphorie und Verzweiflung des getriebenen Künstlers mit Energie, Sensibilität und unwiderstehlichem Charme. Aber auch Jella Haase ist unvergesslich in der Rolle ihrer herzerweichend berlinernden Katharina-Thalbach-Version, deren Liebe stets auf Augenhöhe zum literarischen Genie bleibt.

