"Baltic Storm" untersucht den Untergang der "Estonia"

Frankfurt/Main (rpo). Über 850 Tote liegen seit dem 28. September 1994 auf dem kalten Meeresgrund der Ostsee, untergegangen mit der schwedisch-estnischen Fähre "Estonia". Wie viele es sind, weiß man allerdings nicht mit letzter Sicherheit, denn sieben Crew-Mitglieder, die bei der Bergung der insgesamt 145 Überlebenden angeblich gesehen und identifiziert wurden, sind kurz darauf spurlos verschwunden.

<P>Frankfurt/Main (rpo). Über 850 Tote liegen seit dem 28. September 1994 auf dem kalten Meeresgrund der Ostsee, untergegangen mit der schwedisch-estnischen Fähre "Estonia". Wie viele es sind, weiß man allerdings nicht mit letzter Sicherheit, denn sieben Crew-Mitglieder, die bei der Bergung der insgesamt 145 Überlebenden angeblich gesehen und identifiziert wurden, sind kurz darauf spurlos verschwunden.

Ertrunken, verschleppt, oder ermordet? Nicht die einzige skandalöse Ungereimtheit bei diesem größten Schifffahrtsunglück in europäischen Gewässern seit dem Zweiten Weltkrieg. Der Politthriller "Baltic Storm" bettet die jahrelangen Nachforschungen der deutschen Journalistin Jutta in eine fiktive Rahmenhandlung ein, die von authentischen Beteiligten inspiriert ist. Wegen stürmischen Wellengangs, der das Bugtor abgerissen habe, sei das marode Schiff gesunken, so das Ergebnis der offiziellen Untersuchungskommission, bestehend aus Esten, Finnen und Schweden, deren Behörden entgegen internationalen Rechts Tauchgänge zum Wrack in der flachen Ostsee untersagen, es gar mit Beton versiegeln wollen.

Rabe dagegen entwirft eine Verschwörungstheorie: KGB-Agenten sprengten das Schiff, um florierende Waffenschiebereien von abgehalfterten russischen Wissenschaftlern zu stören, die für US-amerikanisches Militär zu Ausverkaufspreisen neueste russische Biochemiewaffen per Lkw in den Westen verschifften - und um Estland, das sich nach dem Zusammenbruch des Ostblocks zur NATO hin orientierte, eine Warnung zukommen zu lassen.

14 Dokumentarfilme hat Jutta Rabe dazu bereits gedreht, und auch dieser Spielfilm will offensichtlich die Untersuchungen zur "Estonia"-Katastrophe - die Kommission ist inzwischen weitgehend diskreditiert - neu in Schwung bringen. Ein Film mit "Message" also, doch so viel Sympathie man diesem Unterfangen entgegenbringt, so sehr enttäuscht die Machart, bei der das Zusammenspiel zwischen Fakten und Fiktion allzu holprig ausfällt.

Die deutsche Fernsehjournalistin Julia Reuter, die über Stasi-Kontakte Wind von den Waffenschiebereien bekommen hat, macht sich mit einem schwedischen Anwalt, selbst ein Überlebender, der auf der "Estonia" seinen Sohn verlor, auf die Jagd nach den Hintermännern und -frauen. Nach ihrer Tauchexpedition zur "Estonia", die ein Sprengungsloch in der Schiffswand zum Vorschein bringt, wird Julia Reuter von schwedischen Behörden verhaftet.

Man verübt, wie in der Realität auf Rabe, einen Anschlag auf sie; Julias Arbeitgeber, augenscheinlich nach CNN-Vorbild gestaltet, feuert die Journalistin aus unerfindlichen Gründen. Und schließlich gelangt sie mit ihren Helfern in die Höhle des Löwen, ein dubioses US-Militärlager bei Goslar.

Realität ist spannender

Dummerweise ist die Realität, wie sie Jutta Rabe in ihrem Buch "Die Estonia" beschreibt, weit spannender und bedrückender als der Spielfilm, der nach äußerst altbackenem Schema vorgeht: "Sexing up" war hier, wie beim Irak-Bericht der britischen Regierung, die Devise, und hier wie dort funktioniert es nicht.

Wie im zweitklassigen Fernsehfilm setzt der unbekannte Hollywood-Regisseur Reuben Leder klischeehafte Killer in Aktion und suggeriert sich anbahnende Sentimentalitäten zwischen der Journalistin und dem Schweden mit gestelzten Dialogen, die selbst Klasse-Schauspieler wie Jürgen Prochnow, Greta Scacchi und Donald Sutherland als amerikanischer Dunkelmann nicht glaubwürdig über die Lippen bringen: Entertainment für Doofe; glatt verschenkt wurde auch das Potenzial weiterer guter deutscher Darsteller wie Suzanne von Borsody, Jürgen Tarrach und Axel Milberg.

Der chronologische Handlungsfaden reißt zu oft, die möglichen geheimdienstlichen Machenschaften werden auf Stichwörter reduziert: sehr schade, denn solch ein Film wendet sich doch an ein interessiertes Publikum, das eher nüchterne, gern auch kompliziertere Information statt halb garer Action-Soap erwartet.

Dabei zeichnet sich dennoch der schwedische Regierungsapparat als oberster Vertuscher ab, bei dessen arroganten Strippenziehern man sich oft in Kafkas Roman "Das Schloss" wähnt. War indes zu viel juristische Vorsicht im Spiel, um Ross und Reiter beim Namen zu nennen? Oder ist die Faktenlage einfach zu dünn, die "Beweise" zu spekulativ? Ob der Fall Estonia ein zweiter Fall "Olof Palme" ist und nicht nur eine zweite "Titanic", kann dieser verstolperte Politthriller jedenfalls (noch) nicht belegen. Zu hoffen ist, dass er zumindest weitere Nachforschungen nach sich zieht, denn an der offiziellen Unglücksversion sind mehr denn je Zweifel angebracht.

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