Interview mit Charlotte Roche "Ich finde viele Filmszenen auch eklig"

In ihrem Skandal-Bestseller "Feuchtgebiete" schreibt sie offenherzig über Sex und Körperhygiene. Jetzt ist das Buch verfilmt worden.

Gibt es Szenen in der Verfilmung von "Feuchtgebiete", die Sie eklig finden?

Roche Unbedingt. Als ich den Film das erste Mal gesehen habe, saß ich da die meiste Zeit mit dem Gesicht im Pullover und hab' gequietscht und geschwitzt und mich geschämt.

Wieso geschämt?

Roche Mir ist, wie den meisten Menschen, ziemlich viel peinlich. Als ich mein Buch als Hörbuch eingesprochen habe oder wenn ich auf Lesetour gehe, fällt es mir schwer, meinen eigenen Text vorzulesen. Ich denke dann immer: Ach Gott, was hast du da geschrieben!

Warum haben Sie es denn geschrieben?

Roche Ich habe mir all diese ekligen Passagen ausgedacht, weil ich ausdrücken wollte, dass wir es sehr übertreiben mit unseren Hygiene-Vorstellungen. Unsere Gesellschaft wird immer körperfeindlicher. Um das darzustellen, habe ich extrem übertrieben — in die andere Richtung. Ich sage ja nicht, dass man mit seinem Körper umgehen soll wie meine Hauptfigur Helen. Dann stirbt man ja an einer bakteriellen Infektion. Helen will nur beweisen, dass man nicht so schnell einen Infekt bekommt, wie viele Menschen glauben. Darum habe ich mir diese schreckliche Szene ausgedacht, in der sie auf eine verdreckte öffentliche Toilette geht. Ich finde es auch fast unerträglich, das anzusehen.

Warum sollten es dann andere Zuschauer tun?

Roche Ich habe in dem Roman über meine eigenen Verklemmtheiten geschrieben. Auch ich schäme mich für viele normale körperliche Dinge, weil ich denke, dass sie in der Gesellschaft nicht akzeptiert sind. Dass ich sie im Roman dann doch benenne, hat auf viele Leser befreiende Wirkung. Das sagen sie mir bei meinen Lesungen. Sie bekommen dadurch ein anderes Körpergefühl, trauen sich über Dinge wie ihre Periode zu reden. Das ist doch cool: Die Befreiung hat für mich funktioniert und für meine Leser.

Trotzdem ist die Frage, ob man all die ekligen Szenen nun auch noch großformatig auf der Leinwand ansehen sollte.

Roche Der Film hat bei mir bewirkt, dass ich das Kino mit einem total guten, gesunden Körperselbstbewusstsein verlassen habe. Das liegt auch daran, dass die Hauptdarstellerin Carla die Helen so toll spielt.

Ist es denn so schlimm, wenn wir alle ein paar Verklemmtheiten haben und über gewisse Dinge lieber nicht sprechen?

Roche Nein, ich will ja gar nicht, dass wir über alles reden. Aber ich finde es zum Beispiel gut, wenn Freundinnen offen miteinander reden können. Oder jüngere Mädchen mit ihrer Mutter. Ich will nicht, dass alle laut furzen und jeder freigeistig in die Ecke macht. Es geht nicht darum, dass den Leuten in der Öffentlichkeit nichts mehr peinlich sein soll, aber vielleicht in einer Beziehung nicht mehr. Dann können junge Mädchen auch besser mit einem Mann umgehen, sie haben dann Worte, um über ihre Empfindungen zu sprechen.

Damit es in Beziehungen künftig freier zugehen kann, soll sich die Öffentlichkeit also den Film antun und auf diese Weise ihre Schamgrenzen senken?

Roche Ja, finde ich schon. Es gibt viele Botschaften in dieser Geschichte. Aber in erster Linie dient das Buch der Unterhaltung. Und das tut der Film auch. Das ist ein richtiger Knaller. Der Humor ist sehr cool, sehr gut gelungen, ich habe viel gelacht. Aber man leidet auch mit der Hauptfigur, weil die ihre Eltern wieder zusammenbringen will. Ich habe auch richtig viel geweint.

Helen ist eine sehr einsame Figur, und das hat mit ihren Eltern zu tun. Was werfen Sie der Generation Ihrer Eltern vor?

Roche Es gibt in meiner Geschichte tatsächlich Vorwürfe. Die Generation meiner Eltern war politisch, hat gegen die Mentalität der 50er Jahre gekämpft, sich selbst verwirklicht. Ich habe das in meiner Familie erlebt. Die erste Generation feministischer Erziehung wurde an mir ausprobiert. Das war ein radikaler Umsturz, darum verstehe ich auch, dass da viel schiefgelaufen ist.

Ist die Schamlosigkeit ihrer Hauptfigur also eigentlich Folge emotionaler Verwahrlosung?

Roche Ja, würde ich absolut unterschreiben. Allerdings versucht jede Generation, alles richtig zu machen, dabei entstehen dann wieder neue Probleme. Ich habe viele Bekannte, die hat man als Baby weinen lassen — weil die Eltern ausgegangen sind zum Feiern. Eine Generation später finden diese Leute es nun unvorstellbar, ihre Kinder auch nur eine Minute aus den Augen zu lassen.

Empfinden Sie die Hauptdarstellerin Carla Juri als Ihr Alter Ego?

Roche Nein. Sie macht ihre Sache großartig. Sie ist besser, als ich mir beim Schreiben meine Helen vorgestellt hatte. Sie ist anders, wie ein Alien, wie eine Außerirdische, die nicht von dieser Welt ist. Ich denke beim Zuschauen nicht: Ach, die ist wie ich. Ich denke eher bei manchen Dialogen: Toll, die Worte sind vor mir. Da bin ich dann stolz.

Haben Sie Carla Juri denn mit ausgesucht?

Roche Leider nein. Ich habe die Rechte an "Feuchtgebiete" komplett verkauft. Ich wollte Zeit für mein drittes Buch haben, darum habe ich mich entschieden, mich in die Arbeiten an der Verfilmung nicht einzumischen. Ich habe nur den Produzenten ausgesucht, weil ich frühere Arbeiten von ihm sehr schätze.

DOROTHEE KRINGS FÜHRTE DAS INTERVIEW.

(RP)
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