„Haute Couture“ Cinderella auf den Champs-Elysées

Eine zeitgenössische „Aschenputtel“-Version: Der französische Film „Haute Couture“ erzählt von einer jungen Frau aus den Banlieues, die durch Zufall ein Praktikum im Modehaus Dior bekommt.

 Im Atelier von Dior: Nathalie Baye (l.) und Lyna Khoudri bei der Anprobe eines Kleids.

Im Atelier von Dior: Nathalie Baye (l.) und Lyna Khoudri bei der Anprobe eines Kleids.

Foto: Happy Entertainment Verleih / Roger Do Minh/Roger Do Minh

Die Sonne geht auf in Paris, das ist jeden Tag ein neues Versprechen auf Romantik und Lebenslust, und sie scheint in diesem Film auf zwei sehr unterschiedliche Persönlichkeiten. Jade ist eine junge Frau aus den Banlieues, die ihre Hände nur benutzt, um der Welt den Mittelfinger zu zeigen. Esther arbeitet als Direktrice bei Dior, sie ist Ende 60 und so einsam, dass sie mit ihren Rosen spricht und selbst denen einen Hausaufgabe gibt, bevor sie ins Atelier aufbricht: „Seid schön!“

„Haute Couture“ heißt dieser Film, bei dem man ziemlich schnell weiß, wie der Hase laufen wird, den man aber trotz aller Stereotype gerne ansieht. Das liegt vor allem an der 73 Jahre alten Nathalie Baye, die in ihrer Rolle als herrische und verhärmte Chef-Schneiderin nur mal eben mit den Wimpern zu klimpern braucht, um die Temperatur im Raum unter Null zu drücken. Ihr gegenüber steht Lyna Khoudri als späte Vorstadt-Göre, die nicht so krass sein kann, wie sie gerne wäre. Denn sie hat einfach zu feine und edle Hände, das wird während der zwei Stunden Spielzeit mehrfach betont: zum Nähen wie gemacht, wie bei einer Fee, was könnte sie damit alles schaffen! Leider benutzt sie die langen Finger hauptsächlich zum Stehlen. In der Metro greift sie sich an diesem schönen Morgen Esthers Handtasche und rennt weg.

Das ist gerade ein Trend im französischen Kino, dass in opulenten Dramen eine im Verschwinden begriffene Handwerkskunst gefeiert wird – und damit ein Wertesystem, das zu sich aufzulösen droht. „A la carte“ und „Parfüm des Lebens“ sind Beispiele dafür, und auch in „Haute Couture“, der im Original „La Beauté du geste“ heißt, wird ausgiebig in der Mühsal eines Lehrberufs geschwelgt: Man sieht in Großaufnahme, wie Frauen Fäden durch Seidentüll ziehen oder duftige Calais-Spitze ausbreiten. Auch Jade wird in dieser Kunst bald unterwiesen. Denn reumütig bringt sie sie Handtasche zurück, und weil Esther gleich das Talent der jungen Diebin erkennt, stellt sie sie als Praktikantin ein. Ein Märchen aus der Gegenwart ist das nun, Aschenputtel auf den Champs-Elysées. Diese Cinderella hat allerdings eine ziemlich große Klappe. „Man macht die Welt nicht besser, indem man Hohlsäume näht“, sagt sie mitten in der Herzkammer von Dior.

Ganz zu sich kommt die Produktion von Regisseurin Sylvie Ohayon denn auch in den Dialogen. Die sind so pointiert, vergiftet und überjuxt, dass es eine Freude ist. Esther: „Willst du ein Praktikum machen?“ – Jade: „Was verdient man da?“ – Esther: „Genug, gemessen an dem, was du kannst.“ Als eine besorgte Schneiderin sagt, sie müsse rasch nach Hause wegen der Kinder, kommentiert eine Kollegin: „Hättest sie ja nicht bekommen müssen.“ Oder, auch sehr schön, die Szene, in der Jade Nadel, Faden und Stoff mit nach Hause bringt, um abends Nähen zu üben. Ihre beste Freundin sieht zu und sagt: „Du kommst von Dior, und alles, was du mitbringst, ist ein Lappen?“ Die beste Szene ist aber jene, in der Jade im Atelier eine Schere fallenlässt. Alle schauen, totale Stille, größtes Sakrileg. Gemäß dem Aberglauben dieses Handwerks müssen die Hände der Übeltäterin nun rasch mit Salz abgewaschen werden. Jade kann es nicht fassen: „Das ist eine Schere, keine Bombe!“

In dieser Geschichte sind Männer so abwesend wie in den „Peanuts“ die Erwachsenen. Jades Vater: fort. Esthers Lebensgefährte: fort. Männer diffundieren höchstens als wortlose Designer durch Bild, als zärtlicher Feierabendvertreib, oder grüßen wie bei einer Transgender-Nebenfigur als Geschlecht, von dem man sich lieber verabschiedet. This is a Woman’s world. Sylvie Ohayon wuchs selbst in den Vorstädten auf, und sie lässt sozusagen am seidenen Faden so ziemliche alle Konfliktlinien der französischen Gegenwart durch ihre Erzählung laufen, aber eben nur so fein, dass man hinter den schweren Türen des Ateliers davon nichts mehr mitbekommt: Rassismus, Ungleichheit, Klassendenken, Sexismus.

Das Atelier wirkt wie ein Ort außerhalb von Zeit und Raum, das gibt dem Film eine Ruhe und bisweilen Gediegenheit, die noch gesteigert wird, indem die Bilder von dort mitunter mit so einem Gleißen versehen werden, mit einem Strahlen, in dem vor allem Nathalie Baye etwas Heiliges bekommt. Jede unglückliche Familie sei auf ihre eigene Weise unglücklich, wusste schon Tolstoi, und tatsächlich leidet auch Esther hinter ihrer harten Schale. Sie lebt mit Diabetes, ihre Tochter meldet sich nie, und ihr Arbeitgeber schickt sie in Rente und nimmt ihr damit das Letzte, an dem sie sich festhalten kann: „Vielleicht haben sie Angst, ich könnte auf den Tüll sabbern.“ Zum Glück ist da nun Jade. Die Rosen erfahren als Erste von Esthers neuem Lebensmut: „Ich habe ein Mädchen kennengelernt. Ich mag es sehr.“

Es gibt ein Ritual in diesem Matriarchat, und das besteht darin, den Schweißgeruch im Atelier durch das Versprühen von Parfüm zu überdecken. Eigentlich ist das Esthers Aufgabe, aber einmal übergibt sie den Flakon „Miss Dior“ an Jade. Die schreitet stolz durch die Reihen: Pfft, Pfft. Es ist ein Symbol für den gesamten Film: Die Konflikte schwelen zwar weiter, aber immerhin duften sie nun sehr gut.

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