„Der weiße Tiger“ Satire auf die indische Klassengesellschaft

Charmante Sozialkritik: Die Verfilmung des Welt-Bestsellers von Aravind Adiga zeigt bei Netflix ein Bild des gegenwärtigen Indien.

 Adarsh Gourav (l.) mit Rajkummer Rao.

Adarsh Gourav (l.) mit Rajkummer Rao.

Foto: dpa/Tejinder Singh

Bunte Saris, Glitzertempel, Räucherstäbchen und Elefanten sucht man hier vergebens – „Der weiße Tiger“ entführt in das wahre Indien, das heutige Indien, in dem die Schere zwischen Arm und Reich weiter auseinander klafft denn je. Auch wenn es offiziell kein Kastensystem mehr geben mag – der Unterschied zwischen „Männern mit dickem Bauch und Männern mit dünnen Bauch“ könnte kaum größer sein.

Der Ich-Erzähler Balram (Adarsh Gourav) führt in sarkastischem Ton aus dem Off durch seine Geschichte. Es ist die Story eines Aufstiegs – von einem kleinen Dorf, in dem er mit seiner Familie von einem ärmlichen Teeladen lebt, bis in das Silicon Valley Indiens, Bangalore, wo er es als Geschäftsmann offensichtlich zu etwas gebracht hat. Dass es auf dem Weg einige Hürden zu überwinden gilt, teils mit kriminellen Mitteln, scheint hier eher der Normalfall als die Ausnahme zu sein.

Schon früh nimmt sich Balram vor, es zu etwas zu bringen, aus dem Hühnerkäfig zu entkommen, dem Sklavendasein zu entfliehen. Er ist einer der seltenen „Weißen Tiger“, ein Schlauer aus einer niedrigen Kaste, der seine scheinbar vorgezeichnete Bahn hinter sich lässt. In der Rückschau erzählt er in einer Email an den chinesischen Ministerpräsidenten sein Leben und wie er es geschafft hat, in einer Gesellschaft, die von Korruption, Ungerechtigkeit, Missgunst und Brutalität geprägt ist, aufzusteigen – teilweise, in dem er die gleichen Methoden anwendet. Regisseur Ramin Bahrain gelingt es, die Sprache des Buches, den skurrilen Witz, die Spannung und das Tempo gut in Bilder zu übersetzen.

Der amerikanisch-iranische Regisseur zeigt ein realistisches Indien, die Bettler auf der Straße, den Plastikmüll, den Schmutz, das improvisierte Leben vieler, gleichzeitig die Hochhäuser und Enklaven der Reichen, in deren Kellerkatakomben die Angestellten und Fahrer mit den Kakerlaken hausen. Clever und ehrgeizig schafft es Balram, zum Chauffeur eines kriminellen Großgrundbesitzers aufzusteigen. Dessen Sohn Ashok (Rajkummar Rao) und seine Freundin Pinky (Priyanka Chopra Jonas, Star der FBI-Serie „Quantico“) haben in den USA studiert.

Balram wird quasi ihr Leibeigener, mal Kumpel, mal Fußabstreifer, mal Mädchen für alles, wie es genehm ist. Eigentlich hat das westlich geprägte Paar die Klassengesellschaft Indiens hinter sich gelassen, doch wenn es ihnen gerade passt, knüpfen sie gerne an alte Traditionen an. Als ein Unfall geschieht, soll Balram anstatt Pinky die Schuld übernehmen.

Aravind Adiga zeichnet in seinem mehrfach ausgezeichneten Debütroman von 2008 ein gnadenloses Bild des Vielvölkerstaats. Die Gesellschaftskritik kommt hier zunächst in Form eines Schelmenromans daher, extrem unterhaltsam, charmant, schwarzhumorig, später dann wird es düster, abgründig und bedrückend.

Auch in der nun auf Netflix zu sehenden Filmfassung, die die Missstände eindrucksvoll offen legt, erscheint Indien als ein zutiefst zerrissenes Land, weit abseits der Sozialromantik eines „Slumdog Millionair“, der 2009 den Oscar gewann. Kein Wunder, dass in Indien bereits eine Debatte über den Film entbrannt ist. Denn er zeigt anschaulich und schockierend, wie recht Brecht immer noch recht hat: „Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral.“

Info „Der weiße Tiger“ läuft auf Netflix

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