Edgar Reitz führt die "Heimat"-Saga fort

Der grandiose Film "Die andere Heimat" erzählt in vier Stunden die Vorgeschichte des Hunsrück-Zyklus.

Himmelhoch beladene Planwagen rumpeln über Hügel. Einige wenige Passagiere hocken oben auf den schwerfälligen Vehikeln, die meisten laufen zu Fuß hinter ihrem Hab und Gut her. Solche Bilder kennt man aus Western: Todesmutige Pioniere mit ernsten Gesichtern brechen mit Sack und Pack auf ins unbekannte Land. Aber das hier ist kein Western – auch wenn oben auf einem Felsen kurz ein junger Mann auftaucht und beim Blick auf den großen Treck Indianergeheul anstimmt. Das hier ist ein Heimatfilm.

Schauplatz ist der Hunsrück um 1840 – in jener Zeit war Deutschland kein Einwanderungs-, sondern ein Auswanderungsland. Deutsche suchten ihr Glück anderswo, in Südamerika zum Beispiel. Mit "Die andere Heimat – Chronik einer Sehnsucht" dehnt Edgar Reitz seine persönliche Form der Geschichtsschreibung in die Vergangenheit aus. Eigentlich hatte er seine grandiose Hunsrück-Saga auserzählt. Nach mehr als 50 Stunden hatte er das 20. Jahrhundert durchdrungen. Doch nun, da alle das Serienfernsehen lobpreisen, wagt der TV-Mann den epischen, knapp vierstündigen Kinowurf ins 19. Jahrhundert.

Der 80-jährige Filmemacher entdeckt ganz neue Sehnsüchte bei seinen geliebten Hunsrück-Bewohnern: Der Schmiedesohn Jakob (Laiendarsteller Jan Dieter Schneider) aus dem Dorf Schabbach träumt sich weg aus der Heimat. Er will fort über den Ozean. Seine gesammelte Literatur über Südamerika hütet Jakob wie einen Schatz, den sein Vater Johann (Rüdiger Kriese, auch im wirklichen Leben Schmied) am liebsten auf dem Misthaufen entsorgen würde. Einmal schaut ein berühmter Briefpartner zum Disput vorbei: Kein Geringerer als Alexander von Humboldt (in Gestalt von Werner Herzog) rollt in einer edlen Kutsche heran.

Sobald man in diesen Schwarz-Weiß-Film abgetaucht ist, akzeptiert man die Voraussetzung. Die Faszination für die Indianerwelt ist ein märchenhafter und vielleicht sogar notwendiger Trost für die Härte und Bitterkeit des Alltags. Im Winter sterben die Menschen an Diphtherie. Ist der Boden zu tief gefroren, können die Leichen nicht einmal beerdigt werden. Der Baron verbietet das Sammeln von Pilzen, Beeren und Holz. Zumeist haben die Dorfbewohner zu viel mit dem Überleben zu tun, um sich mit der Obrigkeit anlegen zu können. Jedes Kopftuch, jede Kartoffelpresse, jedes Pferdegeschirr und die schnaufende Dampfmaschine vor der Schmiede scheinen ein Echtheitszertifikat beanspruchen zu können. Reitz ließ – genau wie sein ähnlich perfektionistischer Kollege Michael Haneke in "Das weiße Band" - alte Getreidesorten aussäen, die heute gar nicht mehr angebaut werden.

Kunstvoll nutzt Kameramann Gernot Roll das Kerzenlicht in den düsteren Innenräumen der Fachwerkhäuser. Gelegentlich werden digital Farbreflexe – rote Kirschen am Baum – ins Schwarzweiß gezaubert. Da erschrickt man beinahe.

"Die andere Heimat" ist mehr als ein dekorativer Kostümfilm, der von einer abgeschlossenen Zeit erzählt. Hier leben die Vorfahren des "Hermännchen", dem wir viel später in der Hunsrück-Saga begegnen werden. Für den Zuschauer im Jahr 2013 ist es jedoch eine Freude, so weit in die Vergangenheit zu reisen.

(RP)
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