Michael Hanekes "Liebe" Der schönste Film des Jahres

Düsseldorf · Der österreichische Regisseur Michael Haneke erzählt in seinem neuen Film "Liebe" von zwei alten Menschen. Das Ehepaar verteidigt seine Erinnerungen gegen den Tod. Schonungslos, aber voller Pietät zeigt Haneke das Schmerzhafteste überhaupt: die Wahrheit.

Gegen Ende dieses Films fliegt eine Taube in die Pariser Stadtwohnung des Ehepaares. Georges fängt sie, es dauert lange, macht große Mühe, er ist 80 Jahre alt. Er nimmt eine Wolldecke, versucht sie über das Tier zu werfen, schließlich gelingt es ihm. Weil das ein Film von Michael Haneke ist, erwartet man nun eine fürchterliche Pointe. Doch Georges lässt sich auf einen Stuhl fallen, er nimmt die Decke mit der Taube darin auf, er streichelt sie, er weiß nicht mehr, wohin mit seiner Liebe. Es ist ein Bild verzweifelter Zärtlichkeit, ein Symbol der Sehnsucht. Selten sah man etwas derart Trauriges.

"Liebe" heißt das neue Werk des österreichischen Filmemachers Michael Haneke (70), und das Kinojahr hat nun seinen Höhepunkt. Die Produktion erzählt von Anne und Georges; er war Professor, sie Klavierlehrerin. Sie leben in einer großen Wohnung voller Literatur und Musik, sie nennen die Kammer "Kabinett", aber die Kanten der edlen Möbel sind bestoßen, und an der Küchenwand breitet sich ein Wasserfleck aus. Die beiden sind wie Philemon und Baucis, das alte Paar im antiken Mythos, das sich schon so lange so sehr liebt, dass es nur einen Wunsch hat: zusammen sterben. Die Götter sind gerührt von dieser Zuneigung, sie erfüllen den Sterblichen ihren Wunsch und verwandeln sie nach dem Tod in Bäume — in eine Eiche und eine Linde, die nebeneinander stehen und wachsen.

Haneke inszeniert das Leben seines Paares als allmähliche Choreographie, jede Bewegung vollzieht sich langsam, Gewohnheiten geben Sicherheit, beide Menschen streben noch immer nach Schönheit. Sie: "Es gibt ein neues Buch über Harnoncourt." Er: "Ich habe es schon gekauft." Wie der Mann und die Frau miteinander umgehen, ist rührend anzusehen, sie sind höflich, kultiviert, umeinander besorgt, das ist die Eleganz des Herzens. Aber Haneke ist nicht gnädig wie die Götter Griechenlands, das Stadtpalais, in dem er sein Kammerspiel inszeniert, wird zum Schaukasten, und darin experimentiert er mit dem Leben, und er tut es mit dem angeborenen Sadismus des Soziologen — wenn auch nicht ganz so unbewegt wie zuletzt in "Das weiße Band". Nach einem Konzertabend wirkt Anne beim Frühstück abwesend, sie reagiert nicht mehr, und Georges dabei zuzusehen, wie er die Ehefrau aus der Trance zu holen versucht, erfordert Stärke. Man will eingreifen, helfen, aber es geht nicht, das tut weh.

Anne erlitt einen Schlaganfall, bei der Behandlung passiert ein Fehler, nun ist eine Körperhälfte gelähmt. Am Abend ihrer Heimkehr sagt sie: "Bring mich nie wieder ins Krankenhaus." Sie verfällt zusehends, keine Routine hält den Alltag von Mann und Frau mehr zusammen, der eine ist nun alt, der andere krank, und rasch wird klar, dass der Tod die beiden trennen wird. Sie kämpfen dennoch.

Hanekes Filme sind nicht nur gesellschaftliche Laborversuche, der Regisseur ist auch Philosoph, und hier stellt er nun die ungeheure Frage, wie man die Erinnerung schützen kann vor dem Unausweichlichen. Also erzählt Georges seiner Anne von früher. Wenn er die Morgengymnastik mit ihr macht und ihre Knie wie vorgeschrieben 15 Mal beugt, streichelt er nach jeder Einheit über ihr Bein. Und in einer der ergreifendsten Einstellungen singen sie das alte Kinderlied "Frère Jacques".

Haneke zeigt das schonungslos, aber nicht ohne Pietät, er fühlt zwar mit, aber er will die Wahrheit abbilden: Die weiß-blauen Pakete aus dem Orthopädie-Geschäft verstellen längst die Bücherwände, die Reifen des Rollstuhls quietschen auf dem Marmorboden, und die Hausjacke von Georges ist inzwischen löchrig. Aber sie sind noch da, beide, und als eine Pflegerin Anne schlecht behandelt, wirft Georges sie hinaus. Er kämpft um ihre Würde. Er ist für sie da, wenn sie sich aufmacht, ihn zu verlassen.

Der Film hat das Glück, von zwei großen Schauspielern getragen zu werden. Die Besetzung von Emmanuelle Riva (85) und Jean-Louis Trintignant (81) darf man als Bekenntnis Hanekes zum europäischen Autorenkino werten, als bewusste Fortführung jener Tradition, der er sich wie wenige verhaftet fühlt, aus der er schöpft: Riva wird auf ewig mit ihrer Rolle in Alain Resnais "Hiroshima, mon amour" (1959) verbunden bleiben, Trintignant spielte bei all den Giganten der 60er und 70er Jahre — von Costa-Gavras und Chabrol bis Truffaut, Rohmer und Bertolucci. Isabelle Huppert tritt als Tochter von Anne und Georges hinzu, sie kommt ab und zu vorbei, und sie ist die Stellvertreterin der Zuschauer, ebenso hilflos wie hoffend, so wütend wie naiv. Es fröstelt sie immerzu.

In "Funny Games" hatte der Einbruch der Gewalt etwas Absurdes, in "Caché" war die Bedrohung abstrakt, in "Das weiße Band" wurde die Härte durch den zeitlichen Abstand zur Handlung gemildert. Hanekes "Liebe" trifft seine Zuschauer nun unmittelbar; was wir sehen, ist wirklich und nahe. "Liebe" ist der härteste Film, den man sich vorstellen kann, und er ist der schönste.

(RP/jre/pst)
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