„Der Schneeleopard“ Das Paradies kommt ohne Menschen aus

In der „Der Schneeleopard“ steigen zwei Männer in die tibetischen Berge, um ein fast ausgestorbenes Tier zu finden. Sie kehren verändert von ihrer Reise zurück.

 Am Ende finden sie den Schneeleoparden auf 4500 Metern Höhe.

Am Ende finden sie den Schneeleoparden auf 4500 Metern Höhe.

Foto: dpa/Vincent Munier

Kann gut sein, dass man wegen der Weltlage einfach ein bisschen feinnerviger geworden ist und bedürftiger, was Zuspruch und Erbauung betrifft. „Der Schneeleopard“ ist jedenfalls der beste Film, der einem dieser Tage passieren kann. Er handelt vom Frieden, er weist den Weg zu höheren Einsichten, und vor allem legt er den Schluss nahe, dass die Erde ganz gut auf die Menschen verzichten könnte. Die Schönheit der Schöpfung, das ist die Botschaft, entfaltet sich auch dann, wenn niemand hinsieht. Insofern sollten wir es eigentlich als Privileg erachten und als Geschenk, dass wir sie genießen dürfen.

 „Der Schneeleopard“ ist Natur-Doku und Reisebericht. Er ist ebenso Zustandsbeschreibung menschlichen Bewusstseins. Zwei Männer machen sich auf in die Berge Tibets: der Wildlife-Fotograf Vincent Munier und der Schriftsteller Sylvain Tesson. Der eine ist ein Stoiker, dem es nichts ausmacht, bei minus 23 Grad tagelang im Wind zu hocken. Der andere war mal ein Draufgänger, der bei einem Abenteuer abstürzte und nun halb taub und im Gesicht gelähmt ist. Er sitzt frierend da und kann es nicht fassen, dass sie irgendwann auf 4500 Metern sind. Die beiden ergänzen sich perfekt: Munier findet Ansichten, die kaum ein Mensch je betrachtete. Tesson schreibt dazu Sätze in einem hohen Ton, der treffend und angemessen bezaubert klingt: „Die Landschaft war ein Fächer. Cremefarbene Hänge schoben sich zwischen vom Schnee knittrige Hinterwelten. Der Schnee bestäubte die Faltungen, die Götter hüllten sich ein.“

 Munier versuchte erstmals 2011, den vom Aussterben bedrohten Schneeleoparden aufzuspüren, seitdem weitere sechs Male. Er fand lediglich Tatzenabdrücke. Optimistische Schätzungen besagen, dass noch 4000 Tiere in den Bergen Indiens, Kirgisistans, Nepals, der Mongolei und eben Tibets streifen sollen. Weil sich ihr rauchgraues Fell kaum von der schneebedeckten Landschaft abhebt, erkennt man sie selbst dann kaum, wenn sie tatsächlich ins Blickfeld geraten. „Phantom der Berge“ werden sie genannt, sie gelten als mythische Geisterwesen. Vor seiner achten Reise fragte Munier den Reiseschriftsteller Tesson, ob er ihn nicht begleiten möge auf dem Weg zum Schneeleoparden. Tesson: „Ich dachte, der ist ausgestorben.“ – Munier: „Der tut nur so.“

 Das Buch, das Tesson über diese Wanderung veröffentlichte, wurde 2019 zum bestverkauften französischsprachigen Buch in Frankreich, und auch in der deutschen Übersetzung fand es viele Leser. Hier ist nun der Film dazu, und die Panoramen, die Co-Regisseurin und Kamerafrau Marie Amiguet auf die Leinwand bringt, sind so erhaben und von einer solch spröden Schönheit, dass man sie betreten möchte. Zu sehen sind eben nicht Strand, Palmen, azurblaue Ozeane und Sonnenuntergänge, also das, was gemeinhin als schön bewertet wird und als instagramable gilt. Stattdessen taucht man ein in Ansichten schroffer Gebirge, in Grün- und Brauntöne. Die Bilder stehen lange, man kann sie erkunden. Das ist eine Natur, die tendenziell menschenfeindlich ist, weswegen nur wenige überhaupt ihren Fuß auf diesen Boden gesetzt haben.

 Regisseur und Fotograf Vincent Munier (l.) mit dem Schriftsteller Sylvain Tesson.

Regisseur und Fotograf Vincent Munier (l.) mit dem Schriftsteller Sylvain Tesson.

Foto: dpa/-

 Sylvain Tesson stakst zunächst mit Stöckern an der Seite des in sich ruhenden Fotografen und Regisseurs Vincent Munier daher. Im Verlauf der Reise wird er empathischer und ruhiger, und aus dem Off liest er seine Notizen. Das „Puppentheater“, das sie Menschen in der Zivilisation veranstalteten, sagt er, komme ihm nun absurd und abstoßend vor. „Wir haben die Harmonie verloren“, mahnt er. „Du hast die Wahl, dich in die Verzweiflung zu stürzen oder die Schönheit zu finden.“ Er entscheidet sich fürs Letztere.

 Man sieht eine Bärin mit zwei Jungen. Da sind Pfeifhasen, Pallaskatzen, Yaks und Füchse. Manchmal heben sich lediglich ihre Silhouetten gegen das letzte Licht des Tages ab, manchmal schauen sie direkt in die Kamera. Die Begegnungen mit den Tieren nach episch langer Lauer werden zu philosophischen Ereignissen. „Der Schneeleopard“ ist eine Studie in Kontemplation, ein existenzieller Film, der das Paradies an einem Ort findet, an dem Menschen nicht vorgesehen sind. Er habe die verborgene Seite der Welt gefunden, sagt Tesson, den größtmöglichen Gegensatz zur Zivilisation. Zur geradezu reinigenden Wirkung trägt die kongeniale Musik von Nick Cave und Warren Ellis bei. Sie wirft das Publikum im Zusammenspiel mit den Bildern im besten Sinne auf sich selbst zurück. Am Ende passiert das Wunder: Munier und Tesson treffen den Schneeleoparden. Das Tier lässt sich von den Besuchern nicht aus der Ruhe bringen. Es interessiert sich eigentlich gar nicht für sie. Der Schneeleopard weiß: Sie müssen wieder zurück in die Ebene. Er hingegen bleibt an diesem Ort, der dem Himmel näher ist.

Der Schneeleopard, Frankreich 2021 – Regie: Marie Amiguet und Vincent Munier, mit Sylvain Tesson, Vincent Munier, 92 Minuten

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