Coming-of-Age-Drama Skandal wirft falsches Licht auf einen wichtigen Film

Der Film „Cuties“ hat nicht nur einen Boykottaufruf ausgelöst, sondern wirft auch eine zentrale Frage auf: Wie soll ein Film Sexismus kritisieren, ohne ihn zu zeigen?

 In „Cuties“ sucht Amy (r.) Anerkennung - und findet sie für kurze Zeit bei der Clique um Angélica (2.v.r.).

In „Cuties“ sucht Amy (r.) Anerkennung - und findet sie für kurze Zeit bei der Clique um Angélica (2.v.r.).

Foto: netflix/Netflix

Der nächste Boykott-Aufruf hat Netflix erreicht: Nachdem Anfang Juli viele Menschen gegen die polnische Produktion „365 Tage“ protestiert haben, ist nun der Coming-of-Age-Film „Cuties“ (französischer Originaltitel „Mignonnes“) im Fokus einer Petition, der sich bereits mehr als 700.000 Menschen angeschlossen haben. Die Vorwürfe: Der Film enthalte unangebrachte, sexuell aufgeladene Szenen mit Minderjährigen, beute diese aus und sei nichts anderes als Kinderpornografie. Hat man den Film gesehen, fällt es schwer zu glauben, dass man ihn wirklich so missverstehen kann – denn die Botschaft der Regisseurin ist das genaue Gegenteil.

Der Film erzählt die Geschichte der elfjährigen Amy, die mit ihrer Mutter und ihren zwei jüngeren Brüdern aus dem Senegal nach Paris gezogen ist. Bei den Gebetstreffen der streng muslimischen Gemeinde wird ihr die Rolle, die sie als Frau einzunehmen hat, eingeschärft: Sie hat dem Mann zu gehorchen und soll ihm ein glückliches Leben bereiten – und sich keinesfalls freizügig anziehen.

Auf dem Schulhof wird ihr ein konträrer Lebensweg präsentiert: Die Girl-Gang um Angélica übt in Hotpants und Miniröcken ihre Choreografie, mit der sie als „Cuties“ bei einem Tanzwettbewerb gewinnen möchte. Als sie von einer Lehrerin ermahnt werden, ist ihr Widerspruch vor allem eins: laut. Amy ist fasziniert von der scheinbaren Freiheit der Mädchen, die wie sie einen Migrationshintergrund haben, und tut von da an alles, um zu ihnen zu gehören. Sie zwängt sich in das Shirt ihres kleinen Bruders, das bei ihr knalleng und bauchfrei sitzt, übt im Badezimmer heimlich den Hüftschwung, klaut ihrem Cousin sein Smartphone und schaut sich Videos von lasziv tanzenden Frauen an.

Wenig später übernimmt Amy die Regie bei der Choreografie und bringt den anderen Mädchen die sexualisierten Moves bei, die sie aus den Videos kennt. Für kurze Zeit hat sie es geschafft, ist in der Schule und auf Social Media angesagt und weiß gar nicht, wie ihr vor lauter Likes und Herzchen geschieht. Doch ihr Bedürfnis nach Zugehörigkeit erweist sich als bodenlos, und als die so sehnlich erwünschte Anerkennung irgendwann ausbleibt und ins Gegenteil umschlägt, zerreißt es sie. Als sie da mit den „Cuties“ auf der Bühne des Wettbewerbs steht, ihre Beine spreizt und twerkt, scheint ihr bewusst zu werden, dass das nicht die große Freiheit ist, die sie sucht: Sie bricht weinend zusammen und läuft zurück nach Hause.

Genau diese Schlüsselszene nutzte Netflix für das Filmplakat und die Vorschau – aber eben nur die paar Sekunden, in denen die elfjährigen Mädchen in ihren kurzen und engen Metallic-Outfits laszive Moves präsentieren. Dass sie sich dabei offenbar selbst nicht wohlfühlen, unterschlägt die Vorschau, genauso die Reaktionen aus dem schockierten Publikum und der Jury. Und eben diese fehlgesteuerte Vermarktung des Streaminganbieters, die völlig an der Idee des Films vorbeigeht, hat zu dem Aufschrei geführt. Anders ist nicht zu erklären, dass er vorher skandalfrei beim Sundance Film Festival, auf der Berlinale und in den französischen Kinos lief. Netflix hat sich mittlerweile entschuldigt, den Fehler eingeräumt und die Vorschau geändert.

Geblieben ist eine Diskussion, die ein Dilemma aufzeigt: Wie kann ein Film sexualisierte Inhalte kritisieren, ohne sie zu reproduzieren? Ganz ohne Reproduktion wird man nicht auskommen, aber man kann sie begrenzen und sie vor allem in einen Kontext setzen – genau das hat Regisseurin Maïmouna Doucouré getan. Ihr Film ist eine deutliche Kritik an dem Wahn um Schönheit und Anerkennung, der junge Mädchen und Frauen in Selbstzweifel, Bulimie und Rivalität zueinander stürzt und der in den Sozialen Medien auf die Spitze getrieben wird. Doucouré hält unserer Gesellschaft den Spiegel vor, aber sie zeigt auch einen Weg für Amy – und der führt sie weder zu den „Cuties“ noch in ihre Gebetsgemeinschaft.

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