Social-Media-Phänomen „Athena“, Tiktok und die Proteste in Frankreich

Analyse | Düsseldorf · Warum die gewaltsamen Proteste in Frankreich auf Tiktok mit Szenen aus dem Netflix-Film „Athena“ verglichen werden – und warum das problematisch ist. Eine Analyse.

Auf Tiktok werden die Unruhen in Frankreich mit Szenen aus dem Film „Athena“ verglichen.

Auf Tiktok werden die Unruhen in Frankreich mit Szenen aus dem Film „Athena“ verglichen.

Foto: Kourtrajmeuf Kourtrajme / Netflix

Die Tötung des 17-jährigen Franzosen Nahel Merzouk löste große Unruhen aus – in Paris und vielen anderen Städten, aber auch auf Tiktok und anderswo in den sozialen Medien. Neben Hashtags wie #justicepournahel wird häufig auch #athena genutzt. Gemeint ist der französische Spielfilm von Romain Gavras, der seit September 2022 auf Netflix zu sehen ist.

„POV: Athena hat alles vorhergesagt!!!“, heißt es beispielsweise in einem Tiktok-Beitrag. Gezeigt werden Szenen aus dem Film, dann zum Schluss ein Foto von Nahel Merzouk. Fiktion und Realität verschmelzen ineinander.

Was hat es mit „Athena“ auf sich? Hat der Film die Unruhen in Frankreich vorhergesagt, dient er als Vorbild für die Ausschreitungen?

 In den ersten elf Minuten des Films werden die jungen Protestierenden als Helden dargestellt, aber auch auf satirische Weise kritisiert.

In den ersten elf Minuten des Films werden die jungen Protestierenden als Helden dargestellt, aber auch auf satirische Weise kritisiert.

Foto: COURTESY OF NETFLIX / Netflix

Der Film beginnt mit einer Nahaufnahme vom Soldaten Abdel (gespielt von Dali Benssalah). Schnell erfahren wir durch die Stimme einer Nachrichtensprecherin, worum es geht: „Die Atmosphäre außerhalb der Athena-Siedlung ist angespannt. Der dritte Fall von Polizeigewalt in zwei Monaten erschüttert das Land.“ Der Chorgesang, wie man ihn aus der griechischen Tragödie kennt, endet. Stille. Dann beginnt Abdel zu sprechen: „Mein Bruder starb gestern um 0.30 Uhr.“ Seine Bitte: „Zur Erinnerung an Idir, meinen kleinen Bruder, bleibt bitte ruhig beim morgigen Schweigemarsch.“

Es kommt anders. Die Kamera schwenkt zu Abdels jüngerem Bruder Karim (gespielt von Sami Slimane). In seiner Hand: ein Molotowcocktail. Dann geht alles sehr schnell. Die Flasche kracht auf den Boden und entfacht ein großes Feuer, Panik bricht aus. Eine französische Flagge fällt ins Feuer, dann versinkt die Szene im Rauch.

Feuerwerkskörper fliegen, Schüsse fallen. Eine Gruppe maskierter Jugendlicher plündert die Polizeiwache. Die Jugendlichen fahren im Polizeiwagen davon, sie jubeln und zeigen den Polizisten den Mittelfinger. Begleitet wird das Ganze von einer dramatischen Musik. Spannung erzeugt sie, in Kombination mit den Bildern weckt sie aber auch das Gefühl von Freiheit, Rebellion und Sieg. Wie Helden erscheinen die Jugendlichen. Doch dann sehen wir wieder Karim, den Anführer der kriminellen Jugendlichen. Er jubelt nicht mit.

Die zunächst ernste Geschichte über Polizeigewalt erhält etwas Lächerliches. Es wird das Bild gezeichnet von Jugendlichen, die Spaß an der Zerstörung haben. Ein Mitglied der kriminellen Bande schießt auf ein mit Polizeiweste ausgestattetes anderes – und wird dabei nicht nur angefeuert, sondern auch für einen Livestream gefilmt. „Athena“, rufen sie gemeinsam immer wieder. Bis Karim eingreift: „Das ist kein Spiel! Seid ihr dumm? Bis wir die Namen der Bullen kriegen, herrscht Krieg.“

Als der Filmtitel in Begleitung von Chorgesang und Marschtrommeln eingeblendet wird, sind inzwischen elf Minuten vergangen (wohlgemerkt ohne einen einzigen sichtbaren Schnitt). Wer den Film nur bis hierhin geschaut hat, wird denken, dass der Film gewaltsame Proteste glorifizieren will, vielleicht sogar dazu anstiften will.

Doch damit wird man dem Film nicht gerecht. Es kommt zum ersten Bruch, gezeigt wird die andere Seite: die der Polizisten, dann die der Bürger, die die Ausschreitungen nicht gutheißen. „Diese Kids sind durchgedreht“, sagt einer von ihnen. Auch Abdel steht auf dieser Seite.

Den emotionalen Kern der Geschichte machen nicht etwa die Szenen der Eskalation aus, sondern der Konflikt zwischen den Brüdern Abdel und Karim. Die beiden Hauptfiguren stehen für unterschiedliche Antworten auf die Frage, wie wir auf Polizeigewalt reagieren sollten, auf den Tod eines Menschen, verursacht durch einen Polizisten.

Auf der Totenfeier für den verstorbenen Bruder Idir begegnen sich Abdel und Karim endlich – Abdel in Weiß gekleidet, Karim in Schwarz. Intensiv starrt Abdel seinen Bruder an, Karim antwortet mit einem sanfteren Blick und scheint kurz davor zu sein, zu weinen. Der Moment der Stille wird unterbrochen – wieder einmal durch Chaos. Doch diesmal wird die Eskalation nicht mit spannender Musik untermalt, sondern mit traurigen Klaviertönen. Es ist Abdels Sicht auf den Konflikt.

Zum Gespräch zwischen den beiden Hauptfiguren kommt es in der Mitte des Films, in der wohl wichtigsten Szene. „Sie sagen uns nicht, wer Idir getötet hat. Ich lasse nichts gut sein“, sagt Karim. „Was geschehen ist, ist geschehen. Es bringt ihn nicht zurück“, entgegnet Abdel. Einen Moment lang gibt es Hoffnung. „Bitte komm mit, Bruder. Komm nach Hause“, sagt Abdel und umarmt seinen Bruder. Doch dann reißt sich Karim los. „Verräter“, brüllt er und spuckt Abdel an, dieser schlägt ihn daraufhin. Es endet tragisch – für beide Brüder.

 Den emotionalen Kern der Geschichte bildet der Konflikt zwischen den Brüdern Abdel und Karim.

Den emotionalen Kern der Geschichte bildet der Konflikt zwischen den Brüdern Abdel und Karim.

Foto: Kourtrajmeuf Kourtrajme / Netflix

Die Parallelen zwischen „Athena“ und den realen Unruhen in Frankreich sind offensichtlich: In beiden Fällen geht es um einen getöteten Jungen mit Migrationshintergrund, in beiden Fällen kommt es zur Eskalation. Doch ganz passend ist der Vergleich nicht, wenn man nicht nur einzelne Szenen, sondern den gesamten Film betrachtet. Wie am Ende aufgelöst wird, haben nicht Polizisten, sondern als Polizisten verkleidete Rechtsextremisten Idir getötet. Es wirkt so, als wolle der Film sagen, dass nicht Polizeigewalt, sondern Rechtsextremismus das eigentliche Problem ist. Einen solchen Plottwist gibt es in der Realität nicht, zumindest bei Nahel Merzouk nicht.

Es sind nicht die ersten Proteste, bei denen auf Tiktok der Vergleich zu „Athena“ gezogen wird. Ähnliche Videos hat es rund um die Silvesternacht in Berlin gegeben. Umgekehrt ist „Athena“ zwar aktuell und beliebt, steht aber in einer Tradition anderer Filme, darunter „Hass“ aus dem Jahr 1995, ebenfalls aus und über Frankreich. Der Tiktok-Trend rund um „Athena“ und die Proteste in Frankreich ist problematisch: Wer die Tragödie als Einladung versteht, die Gruppe um Karim zu imitieren, hat den Film nicht verstanden.