62. Filmfestspiele in Berlin Die Gesichter der Berlinale

Berlin · Am Samstagabend gehen in Berlin die 62. Filmfestspiele zu Ende. Den einen überragenden Film gibt es diesmal nicht, dafür viele Arbeiten, denen man einen Bären gönnen würde. Es war also ein guter Jahrgang, der mit einem deutschen Sieg enden könnte: Christian Petzolds "Barbara" ist Favorit.

Das sind die Gesichter der Berlinale
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Man sieht sie auch nach Tagen noch auf dem Klinikflur stehen, den Kopf gegen die Wand gelehnt, die Sehnsucht nach Freiheit im Blick: Nina Hoss als junge Ärztin, die ihre Heimat DDR verlassen will, nur noch auf Abruf dort lebt, in der Schwebe. Doch dann kommt ihr dieser Kollege dazwischen, einer, der ganz fest in seinem Leben steht.

Man kann in Christian Petzolds "Barbara" erleben, wie Liebe wächst gegen ein System voller Misstrauen. Man kann diese Liebe sehen in Blicken, Gesten, sie ist keine Behauptung. Und man erlebt in diesem Film endlich, wie das Lebensgefühl Anfang der 80er Jahre in der DDR zu Kunst verdichtet wird. Weil so wahrhaftige Darstellungen selten sind, geht einem diese "Barbara" auch nach acht Tagen Berlinale und 23 Wettbewerbsfilmen nicht aus dem Kopf. Solche Filme sollten einen Bären bekommen.

Petzold ist früh zum Favoriten der 62. Berlinale geworden, und er ist es trotz der seltsamen Eigendynamik solcher Festivals geblieben. Darüber darf sich die deutsche Filmbranche freuen. Doch ein wenig erstaunlich ist es schon, denn "Barbara" ist ein sehr guter, aber kein überragender Film. Einen absoluten Ausreißer nach oben hat es diesmal in Berlin nicht gegeben, dafür eine ganze Reihe von Kandidaten in der Petzold-Liga. Und das ist auch nicht wenig. Zumindest ist es nun tatsächlich spannend, wer heute Abend die Bären bekommt.

Da ist etwa der starke ungarische Beitrag "Just The Wind" von Bence Fliegauf über rassistische Anschläge gegen Roma in seinem Land. Der Film ist eine intensive, präzise Beobachtung der äußerlichen Verwahrlosung und innerlichen Resignation gesellschaftlich geächteter Menschen. Und zugleich ist dieser in unerbittlichen Nahaufnahmen gedrehte Sozialthriller ein Film über die Angst. Die Darsteller sind Laien — selten hat man so viel stolze Verschlossenheit, solch wortkarge Würde vor der Kamera erlebt. Dieser Film wirft einen um, gerade, weil er den Zuschauer zu nichts zwingen will, ihn nur nicht verschont, ihm alles zeigt. Angesichts des Rechtsrucks in Ungarn könnte die Jury unter Vorsitz des politischen Denkers Mike Leigh einen Bären für diesen Film für ein gutes Zeichen halten.

Ein Fest für Cineasten ist der anspielungsreiche portugiesische Kandidat "Tabu" von Miguel Gomes. Er arbeitet raffiniert mit Motiven aus Friedrich Wilhelm Murnaus gleichnamigen Pazifik-Abenteuer-Stummfilm und collagiert munter Genres von Melodram bis Slapstick. Die Mischung ist so eigenartig wie einzigartig und könnte einen Bären wert sein.

Eine Dosis Heiterkeit verpasste Billy Bob Thornton der Berlinale mit seiner Antikriegs-Familien-Tragikomödie "Jayne Mansfield's Car". Es geht um Väter und Söhne in diesem Film und darum, wie der Krieg das Leben von Soldaten zerstört, selbst wenn sie nicht fallen. Weil Thornton darin auch noch eine Hauptrolle spielt, hat die Jury mehrere Möglichkeiten, ihn zu ehren. Es wäre ein Gruß an das unabhängige US-Kino, wenn den Film auch Russen finanziert haben.

Diese Berlinale war ein Wettbewerb der stillen, beobachtenden Filme. "Das Kind von oben" der Frankoschweizerin Ursula Meier etwa lässt vor majestätischem Alpenpanorama das prekäre Leben eines Jungen auf die Luxuswelt reicher Skifahrer prallen. Der Film muss nicht viele Worte machen, um mit ätzender Kraft von Ungerechtigkeit zu erzählen. Er findet die richtigen Bilder dafür.

Ähnlich karg und gerade darum bezwingend ist der französische Film "Coming Home" von Frédéric Videau. Er entwickelt eine eigene Version des Natascha-Kampusch-Falls, ist präzise gebaut und hat hervorragende Hauptdarsteller. Beide Filme haben Bärenchancen, weil sie starke Geschichten erzählen und eigene Bildsprachen entwickeln — ein kleines Stück vorantreiben, was Kino ist.

Ganz ausgeschlossen ist auch nicht, dass das Schuld-Drama "Gnade" von Matthias Glasner über eine deutsche Familie im ewigen Eis Norwegens den Geschmack von Jurypräsident Mike Leigh trifft. Und das dürfte für die Bären-Vergabe entscheidend sein. Glasner traut sich, eine tragische Geschichte in eine heilsame zu verwandeln. Er unterläuft all die Klischees, die bei einem Film über eine Fahrerflucht naheliegen. Auch das kann Jurys für einen Kandidaten einnehmen. Doch man würde den Preis dann doch lieber so versponnen Filmen wie "Postcards From The Zoo" gönnen, in dem der indonesische Regisseur Edwin ungeheuer zart von einer Frau erzählt, die im Zoo von Jakarta lebt. Eineinhalb Jahre hat Ladya Cheryl als Tierpflegerin gearbeitet, um sich auf diese Rolle vorzubereiten. Das kann man tatsächlich sehen. Weil sie eine anmutige Darstellerin mit dem Charme einer Audrey Hepburn ist, hätte sie einen Darsteller-Bären verdient.

Natürlich liefen auch in diesem Jahr ein paar Star-Vehikel, die Zuschauer an den Roten Teppich locken sollten. Zum Abschluss hat das noch einmal geklappt: Robert Pattinson mit geschorenen Haaren kam nach Berlin. Er hat das Vampirgewand gegen einen Frack getauscht und die Hauptrolle in "Bel Ami" nach dem Roman von Guy de Maupassant gespielt. Hübscher Kostümfilm. Pattinson verdreht feinen Pariser Damen den Kopf und macht Karriere. Zum Abschluss darf sich ein Filmfest so viel Rüsche leisten.

Bleiben werden jedoch Bilder, wie das des Roma-Mädchens, das einem Nachbarskind aus der vermüllten Siedlung ein Blumenkränzchen flicht. Und die klugen Worte der mazedonischen Regisseurin Teona Mitevska: "Es gibt viel Kunst, aber nur notwendige Kunst ist notwendig." Die 62. Berlinale war nicht überragend, aber sie hat notwendige Filme gezeigt.

(RP/sap/csi)
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