Meisterwerk "Boyhood" Richard Linklater macht aus der Berlinale ein Fest

Berlin · Dieser Berlinale-Jahrgang wird als derjenige in Erinnerung bleiben, der sich mit Richard Linklaters Meisterwerk "Boyhood" schmücken durfte. Die 165 Minuten lange Produktion des US-Regisseurs übertraf alles, was im Wettbewerb um den Goldenen Bären für den besten Film konkurrierte. "Boyhood" sorgte gar dafür, dass die Arbeiten, die man eben noch als Kandidat für einen Preis in Erwägung gezogen hatte, banal wirkten, konventionell, mitunter bemüht und eitel.

Berlinale: Diese Filme kämpfen um den Goldenen Bären
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Foto: dpa, nar sab

Es gab zwar durchaus gute Momente. Wes Anderson sieht man immer gern, wobei er mit "Grand Budapest Hotel" einen hochwertigen Film anbot, seinem großartigen Werk aber, das Arbeiten wie "The Royal Tenenbaums", "Darjeeling Limited" und "Moonlight Kingdom" umfasst, keine neuen Aspekte hinzufügte, sondern es weiter verdichtete und perfektionierte.

Als gelungen darf man auch zwei der vier deutschen Beiträge bezeichnen: "Kreuzweg" von Dietrich Brüggemann besteht aus 14 festen Kameraeinstellungen; dieses Formprinzip ergibt sich aus dem Kreuzweg Jesu, den hier ein 14 Jahre altes Mädchen (eine Entdeckung: Lea van Acken) abschreitet, das von dem Wahn getrieben wird, durch Askese und Kasteiung seinem kranken Bruder helfen zu können. Das Konzept ist gut, wird aber mit fortschreitender Spieldauer zum Problem: Man weiß im Grunde nach der ersten Einstellung, wie der Film enden wird.

Auch "Die geliebten Schwestern" von Dominik Graf gehört zu den besseren Produktionen. Der Regisseur inszeniert die Ménage à trois zwischen Friedrich Schiller und den beiden Lengefeld-Schwestern mit ungeahnter Frische, sein Stürmer und Dränger ist nicht der Klassiker in spe, sondern ein Liebhaber, unprätentiös und leidenschaftlich. Graf kommentiert das Geschehen aus dem Off - das ist meistens klug und bisweilen zu viel des Guten.

Dieser Film ist makellos

Makellos indes ist einzig "Boyhood". Ein Filmkritiker, der seit den 80er Jahren von der Berlinale berichtet, jubelte direkt nach der Vorführung, er habe einen derart überwältigenden Film in Berlin noch nicht zu sehen bekommen. Und der "Tagesspiegel" schrieb in seiner Besprechung, "Boyhood" knipse vielleicht nicht 120 Jahre Filmgeschichte aus, "er fügt ihr aber noch nie Gesehenes hinzu". Das Besondere, das Wunderbare, das Originelle dieses Wettbewerbsbeitrags, der im Januar bereits auf dem Festival in Sundance gezeigt wurde, ist nun, dass er etwas sichtbar macht, das man im Kino sonst nicht erlebt: den Prozess der Zeit.

Linklater begann das Projekt bereits vor zwölf Jahren. Damals besuchte er den sechs Jahre alten Kinderdarsteller Ellar Coltrane daheim in Texas. Dessen Eltern, beide Künstler, waren einverstanden, dass ihr Sohn an dieser Langzeitstudie teilnimmt. Denn Linklater kam von nun an jedes Jahr und blieb für jeweils zwei bis vier Tage, um mit dem Jungen zu drehen; der letzte der insgesamt 39 Drehtage ging im Oktober 2013 zuende.

Der 53-jährige Regisseur wollte in einem Spielfilm die Entwicklung eines Kindes zum Erwachsenen dokumentieren - und zwar mit ein- und demselben Kind, nicht mit wechselnden Darstellern. Er brachte zu jedem Dreh Patricia Arquette und Ethan Hawke mit, die die Eltern des Jungen verkörpern. Die Geschichte selbst ist ausgedacht, aber stark an den Erlebnissen von Linklaters eigener Kindheit in Texas orientiert. Das Drehbuch wurde vor Ort entwickelt, teils unter Mitwirkung der Darsteller und immer mit Blick auf das, was den Beteiligten im abgelaufenen Jahr widerfahren ist; auch der Zufall schrieb also am Skript. Ellar Coltrane heißt im Film Mason, er wächst mit seiner großen Schwester Samantha auf, deren Rolle wiederum Linklaters Tochter Lorelei übernommen hat.

Dokument größtmöglicher Wahrhaftigkeit

Entstanden ist der endgültige Coming-Of-Age-Film, ein Dokument größtmöglicher Wahrhaftigkeit. Der Zuschauer begleitet Mason von der Einschulung bis zum Umzug des 18-Jährigen ins College. Masons Eltern trennen sich, die Mutter erzieht die Kinder, treibt ihr Psychologie-Studium voran, heiratet einen Alkoholiker, lässt sich scheiden und heiratet einen Irakkrieg-Veteran. Der Vater kommt an den Wochenenden zu Besuch und gibt auf Ausflügen den antiautoritären Kumpel mit Gitarre, er heiratet eine brave Frau, hört schließlich auf, Songs zu schreiben und wird statt dessen Versicherungskaufmann, und am Ende verkauft er seinen Pontiac GTO und legt sich einen Minivan zu. Mason trinkt das erste Bier, findet eine Freundin, entdeckt das Fotografieren, bekommt ein Stipendium und hat Pickel.

Wer nun sagt, das wirke ja wenig dramatisch, liegt richtig. "Boyhood" bildet das Leben ab, den Alltag, und Linklater achtet darauf, gerade nicht die spektakulären oder sensationellen Momente einzufangen, sondern jene, in denen die Wahrheit aufscheint. Man könnte meinen, "Boyhood" funktioniere wie ein Prequel für seine "Before Sunrise"-Trilogie, in der Linklater Julie Delpy und Ethan Hawke über 18 Jahre hinweg begleitete.

"Boyhood" ist jedoch konsequenter, noch konzentrierter. Linklater zeigt, wie sich das Sprechen verändert, wie vormals coole und jugendlich wirkende Väter plötzlich Sätze wie diesen sagen: "Mit Entschiedenheit kann man es weit bringen." Er zeigt, wie Trennungen und Abschiede die Persönlichkeit formen. Und er zeigt, wie die Dinge, die uns umgeben, zu Bestandteilen unserer Biografien werden: Gameboy, Wii, iPod, iPhone.

Linklater ist dezent und behutsam. Es gibt keine Zwischentitel, die anzeigen, dass wieder ein Jahr vergangen ist; man muss es aus den kleinen Veränderungen in den Gesichtern lesen, aus den Songs, die beiläufig angespielt werden: von Coldplays "Yellow" bis "Get Lucky" von Daft Punk. Die große Politik, der Präsidentenwechsel etwa, ist nicht mehr als ein Hintergrundrauschen.

Man sitzt also im Kino und sieht den Schauspielern dabei zu, wie sie das Leben leben, das auch unseres ist. Und wer Kinder hat, dürfte noch ergriffener von dem sein, was da gezeigt wird. Die Weite hinter den Stirnen der Jugendlichen, in die man nicht vordringen kann. Die Geschwindigkeit des Großwerdens. Die Unausweichlichkeit, mit der man sich als Erwachsener in Rollen fügt, die man nie hatte annehmen wollen. Man beneidet die eigenen Kinder um das, was sie noch erleben dürfen, und man wird wehmütig, weil das bei einem selbst schon so lange her ist und die Jugend perdu.

"Boyhood" handelt also von nichts Geringerem als von der wiedergefundenen Zeit. Alles, was in diesen fast drei Stunden auf der Leinwand zu sehen ist, kennt man. Aber es ist, als erlebe man es zum ersten Mal.

Dafür gehen wir ins Kino.

(hols)
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