Berlinale 2023 Goldener Bär für Doku „Sur l'Adamant“

Berlin · Die Jury der 73. Filmfestspiele Berlin hat am Samstagabend den Goldenen Bären verliehen. Der Preis für den Besten Film vergab das Gremium unter Leitung der US-Schauspielerin Kristen Stewart an den Wettbewerbsbeitrag „Sur l'Adamant (On the Adamant)“ des französischen Dokumentarfilmers Nicolas Philibert.

Regisseur Nicolas Philibert mit seinem Goldenen Bären.

Regisseur Nicolas Philibert mit seinem Goldenen Bären.

Foto: AFP/TOBIAS SCHWARZ

Der Film erzählt die Geschichte einer schwimmenden Tagesklinik in Paris, wo Menschen mit psychischen Problemen betreut werden.

Ein schwimmendes Tageszentrum, eine Begegnungsstätte auf der Seine: Seit 2010 dient die „Adamant“ als Projekt zur Rehabilitation von Psychiatrie-Patienten. Mit seinem Dokumentarfilm „Sur l'Adamant“ (Auf der „Adamant“) hat Nicolas Philibert eine spezifisch politische Note in die Berlinale eingebracht. Dafür erhielt der Film am Samstagabend den Goldenen Bären als bester Film überreicht.

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„Sur l'Adamant“ zeigt, dass das Wohl und Wehe der Schwachen maßgeblich für das Selbstverständnis einer Gesellschaft ist. Was also haben uns die zu sagen, die am Rand der Normalität existieren, unsichtbar für die meisten von uns?

Da ist zum Beispiel Francois. Zu Beginn des Films trägt er ein Lied der Band Telephone vor: „Die menschliche Bombe, das bist du, sie gehört dir. Du hast den Zünder gleich neben deinem Herzen. Wenn du jemanden dein Schicksal in die Hand nehmen lässt, ist das das Ende.“ Francois singt sehr gut, und er macht klar, worum es hier geht: Auch seelisch Kranke haben ein Recht auf Aufmerksamkeit, auch sie wollen Selbstbestimmung. Später dann erzählt Francois: „Ich bin das einzige, was dir missglückt ist“, sagte er einst seinem Vater. Worte, die die immense Spannung abbilden, unter der er und seine Mitpatienten leben. Zugleich weiß Francois, dass er krank ist: „Ohne Medikamente raste ich aus. Das wäre nicht schön, weder für mich noch für die anderen.“

Auf der „Adamant“ versuchen die Kranken, außerhalb der psychiatrischen Strukturen Fuß zu fassen. Dabei ist das Boot keine Klinik, sondern ein Ort der Begegnung. Der Film zeigt, wie das geht, ein Leben auf Probe: Gemeinsam mit ihren Betreuern malen die Patienten, sie nähen, musizieren, sie trinken Kaffee, organisieren Lebensmittel, kochen. Und sie reden: Sie sprechen miteinander und mit den Betreuern, sie erzählen uns, wie sie klarkommen mit ihrem Schicksal.

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Manches davon gibt Rätsel auf. So erinnert der Anblick einer Mütze einen Patienten erst an Püree, dann an Babys und schließlich an den Tod. Ein anderer entdeckt sich und seinen Bruder in Vincent und Theo van Gogh wieder, zugleich aber auch in Filmfiguren von Wim Wenders: „Dieser Halunke hat das nie erwähnt.“ Ein dritter ist hypersensibel, er erlebt eine Korrespondenz von Gesten und Geräuschen. Vor Strahlen schützt er sich mit Kristallen und Magneten.

Philibert verzichtet darauf, Betreuer und Ärzte zu interviewen, wir sehen auch keine Anfälle, Ausraster, Zusammenbrüche; dieser Film ist nichts für Voyeure. Hier kommen die Patienten als Experten zu Wort. Eine Frau musste ihren Sohn an eine Pflegefamilie abgeben. „Einmal im Monat kann ich ihn sehen“, berichtet sie. „Aber es geht mir schon besser, inzwischen höre ich keine Stimmen mehr.“ Ein älterer Mann beschreibt, was die Herzen der Menschen seiner Erfahrung nach prägt: Hass. Eine Frau hat eine Gottesanbeterin gemalt und erläutert ihr Bild: „Hier geht es um alles. Um das Leben, die Liebe, den Tod.“ Und eine Mitpatientin ist überzeugt: „Ich werde vom Wahnsinn geheilt werden.“

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Der Blick auf die sonst verschlossene Seite der Gesellschaft lässt die Angst und Not der psychisch Kranken erkennen. Zugleich entdeckt der Film, wie präzise die Patienten ihre Lage analysieren. „Wir haben ein Image-Problem.“ Nur zu gut wissen sie, dass die meisten ihnen aus dem Weg gehen: „Wir haben zerstörte Gesichter.“ Treffender lässt sich Stigmatisierung nicht beschreiben.

Seelische Erkrankungen bedrohen die Würde der Menschen, und das Tag für Tag, Jahr um Jahr. Das hat auch eine politische, eine ethische Dimension: „Ich habe meine Freiheit verloren“, resümiert eine ältere Patientin, „ihr seid frei“, sagt sie lakonisch in die Kamera: „Ihr könnt machen, was ihr wollt. Ich darf das nicht.“ Damit öffnet der Film seinen Blick, wir verstehen, dass auch unsere Autonomie nicht selbstverständlich ist. Jeder könnte krank werden, Stimmen hören, zur menschlichen Bombe werden. Das wissen wir alle. Warum sonst gehen wir den zerstörten Gesichtern aus dem Weg? Wie gesagt: Wir können machen, was wir wollen.

(felt/kna)
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