"24 Wochen" und "Fuocoammare" Die Berlinale an der Schmerzgrenze

Berlin · Nach einem heiteren Beginn widmet sich das Festival den harten Themen. Julia Jentsch überzeugt als schwangere Frau, deren ungeborenes Kind schwer krank ist. Und Isabelle Huppert begeistert als emotional versehrte Eiskönigin.

 Julia Jentsch überzeugt in "24 Wochen".

Julia Jentsch überzeugt in "24 Wochen".

Foto: dpa, hjb

Es gibt diesen schönen und etwas melancholischen Moment am Ende eines jeden Berlinale-Tages, wenn man kurz vor dem Schlafengehen die Traumfabrik am Potsdamer Platz verlässt. Die letzten Vorstellungen beginnen dort ja um halb elf am Abend, und danach ist die Stadt still. Man hat drei oder vier Filme hinter sich, und man muss sich kurz orientieren, welcher Wochentag das denn ist und welches Jahr, und dann erinnert man sich beim Gehen und Bahnfahren automatisch an die Szenen und Bilder, die vom Tag geblieben sind.

Eines dieser Bilder zeigt das Gesicht von Julia Jentsch, die mancher bereits als Anwärterin auf den Silbernen Bären für die beste schauspielerische Leistung wähnt. Die 37-Jährige spielt die Hauptrolle im einzigen komplett in Deutschland produzierten Wettbewerbsbeitrag: In "24 Wochen" geht es um eine schwangere Frau, deren ungeborenes Kind schwer krank ist. Nun muss sie entscheiden, ob sie es zur Welt bringen wird. Gedreht hat den Film Anne Zohra Berrached, es ist ihre Diplomarbeit an der Filmakademie Baden-Württemberg, und das ist überhaupt erst das zweite Mal nach "My Sweet Home" von Filippos Tsitos 2001, dass eine studentische Abschlussarbeit für den Wettbewerb zugelassen wurde.

Schluchzen bei der Pressevorführung

Der Film zeigt eindringlich und am Ende auf quälende Weise, wie Jentsch und ihr Filmpartner Bjarne Mädel zu ihrer Entscheidung gelangen. Es kommt selten vor, dass bei Pressevorführungen geschluchzt wird, aber bei "24 Wochen" war es so; der Film hat viele berührt. Man merkt, wie viel die 34 Jahre alte Regisseurin über das Thema Spätabtreibung behinderter Kinder recherchiert hat. Etwas Dokumentarisches zieht sich durch das zum Teil durch Improvisation entstandene Werk, das deshalb aber nicht weniger emotional ist.

Überhaupt kann man sagen, dass die Filme im Wettbewerb nah heran gehen an den Menschen, bis an die Schmerzgrenze gewissermaßen. So ist es auch bei dem Film "Fuocoammare" des italienischen Regisseurs Gianfranco Rosi. Wenn sich Festival-Chef Dieter Kosslick einen Berlinale-Gewinner 2016 backen könnte, er würde wohl so aussehen wie diese Dokumentation. Rosi hat ein Jahr auf Lampedusa verbracht, wo in den vergangenen Jahren eine halbe Million Menschen aus Afrika ankamen. 15.000 wurden tot geborgen, und Rosi schneidet nun Szenen der Ankunft gegen Einblicke aus dem Leben eines kleinen Jungen, der auf der Insel lebt und aufwächst.

Er zeigt nur, "was ist"

Das Existenzielle steht hier neben dem Alltäglichen, Verzweiflung neben Unbeschwertheit, und beide Erzählstränge werden von der Hoffnung auf Zukunft bestimmt. Rosi zeigt den Jungen, wie er sich eine Steinschleuder baut, und dann lässt er einen Arzt reden, der Flüchtlingskinder untersucht. Viele litten unter Verbrennungen, weil ihre Boote mit Diesel betrieben werden. Die Kleidung sauge sich voll mit Diesel und Salzwasser, das verätze die Haut.

 Gianfranco Rosi hat ein Jahr lang die Ereignisse auf Lampedusa beobachtet.

Gianfranco Rosi hat ein Jahr lang die Ereignisse auf Lampedusa beobachtet.

Foto: dpa, nie kde

Rosi gewann 2013 den Goldenen Löwen in Venedig, ebenfalls mit einer Dokumentation: "Sacro GRA — Das andere Rom". In Berlin wurde seine neue Arbeit heftig bejubelt, aber ebenso stark kritisiert. Rosi schreckt nicht davor zurück, Sterbende und Tote zu zeigen, am Ende des Films nämlich, wenn die Kamera in den Lagerraum eines Schiffes hält. Er zeige nur, was sei, sagte Rosi in Berlin. Das Elend der Flüchtlinge sei für ihn die größte Tragödie seit dem Holocaust. Seine Bilder jedenfalls begleiten einen in die Nacht, wahrscheinlich wird man sie auch lange nach Ende der Berlinale nicht los.

Als preiswürdig gilt auch Isabelle Huppert, die einen eiskalten und sehr nachdenklichen Film in den Wettbewerb schickt, der ebenfalls für Diskussionsstoff sorgt — allerdings nicht aus ethischen Gründen, sondern ästhetischen. Die Huppert (62) spielt in "L'avenir" eine Philosophie-Lehrerin, die mit einem Volvo-fahrenden Philosophie-Professor verheirat ist. Alles ist gut, doch plötzlich verlässt er sie für eine andere. Sie schreit nicht oder tobt, als sie seinen Abschiedsbrief liest, sie schaut lieber im Regal nach, welche Bücher er mitgenommen hat, und als sie sieht, dass Buber und Levinas fehlen, flucht sie: "Bastard!"

Huppert macht das toll, ihre Figur gibt sich keine Blöße, bleibt distanziert, panzert sich ab gegen die Zudringlichkeiten des Lebens. Es gibt ein zartes Getechtel mit einem ehemaligen Schüler, der nun Anarchist ist, und als man schon denkt, dass diese Frau, die nicht mal zu Selbstmitleid fähig ist, doch die Leidenschaft entdeckt, sagt sie: "Ich war noch nie so frei." Aber dann macht sie nichts, sie sitzt da und kann nicht fassen, dass nun die Zeit nach den großen Ideen angebrochen ist, das Ende der Illusionen.

 Isabelle Huppert auf der Berlinale.

Isabelle Huppert auf der Berlinale.

Foto: afp

Viele finden die Arbeit der Regisseurin Mia Hansen-Løve zu kühl, dabei ist sie einfach konsequent, und im Mittelpunkt strahlt Huppert mit ihrer großen Leistung. An all das muss man also denken, bevor man zu Bett geht. Und dass es einen nicht loslässt, dass man also aus dem Kino heraus neu über die Gegenwart nachdenkt, ist ein gutes Zeichen für diesen Jahrgang.

(hols)
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