Berlinale 2022 Wie ich beinahe Isabelle Huppert traf

Berlin · Halbvolle Kinos, wenige Stars, keine Partys: Die Corona-Berlinale findet in einer besonderen Atmosphäre statt. Ein sehr persönliches Fazit.

 Isabelle Huppert konnte nicht nach Berlin kommen, weil sie positiv auf Covid-19 getestet wurde. Regisseur Laurent Larivière nahm stellvertretend den Goldenen Bären entgegen, den Huppert für ihr Lebenswerk bekam.

Isabelle Huppert konnte nicht nach Berlin kommen, weil sie positiv auf Covid-19 getestet wurde. Regisseur Laurent Larivière nahm stellvertretend den Goldenen Bären entgegen, den Huppert für ihr Lebenswerk bekam.

Foto: dpa/Monika Skolimowska

An manchen Berlinale-Tagen war ein negativer Corona-Test schon das Positivste. Jeden Morgen musste man einen Abstrich nehmen lassen. Es hatte etwas von einer Theateraufführung, die Kollegen beim Warten auf das Ergebnis zu beobachten. 15 Minuten Ungewissheit: Gehen die Festspiele für mich weiter? Manche zogen hektisch an ihrer Zigarette. Andere schritten auf und ab. Viele drückten immerzu „Refresh“ in der Handy-App und zischten „Shit!“ durch die Zähne, wenn sie sich wieder nicht aktualisiert hatte. Über alle ging dieser fiese Wind, der sich besonders gern am Potsdamer Platz aufhält.

 Ich traf Tomasz am ersten Tag. Er kam aus einem weißen Zelt und wirkte froh. Deshalb fragte ich, was es denn da gebe. Er wies auf das Bändchen an seinem Handgelenk. Das bekomme man, wenn man seinen negativen Test vorzeige. Es gelte einen Tag, und man müsse vor den Kinos nur damit winken und brauche nicht mehr das Handy herauszukramen und die App zu öffnen, um eingelassen zu werden. Das spare Zeit. Für mich klang das in diesem Moment sehr logisch. Ich holte mir auch ein Bändchen und fühlte mich gut.

 Tomasz schrieb für ein polnisches Magazin. Er war für neun Tage gekommen und fürchtete jeden Morgen, sein Test könne positiv sein und er müsse wieder heim. Er sah fünf Filme pro Tag. Manchmal trafen wir uns zwischendurch. Weil die drei Cafés nahe dem Berlinale Palast ständig voll waren, trank er draußen im Stehen schwarzen Kaffee und aß veganen Schokokuchen. Dann fuhr er mit dem Fahrrad zur nächsten Aufführung. Oder zum Interview mit dem Regisseur aus Kasachstan, den er so mochte. Abends schrieb er E-Mails mit seinen Eindrücken. „Das ist der schlechteste Wettbewerb, den ich je erlebt habe“, lautete sein Urteil.

 Ich hatte bereits vor Wochen ein Interview mit Isabelle Huppert angefragt. Es wurde in Aussicht gestellt, aber lange nicht bestätigt. Es war ein Running Gag in den Gesprächen mit Tomasz: Wenn es klappt, wird alles gut. Kurz bevor das Gespräch stattfinden sollte, bekam ich eine E-Mail: Dienstag, 11 Uhr, Hotel Adlon, erste Etage. „Freut mich für dich“, sagte Tomasz, „das wird bestimmt super.“

 Zum Schreiben konnte man sich ins Souterrain des Berlinale Palastes zurückziehen. Dort standen Tische mit Steckdosen zwischen Überresten der Kulisse zum Oberkörper-Musical „Magic Mike“. Es zog dort sehr, einmal schrieb ich in Jacke und Kapuze. Ein Einhorn, das womöglich in der Inszenierung eine Rolle spielt, schaute mir zu. Ich weiß nicht, ob es an dieser Gesellschaft lag, aber in meinem Text kam das Wort „Liebe“ auffallend oft vor.

 Ich sah einen Film, in dem eine Frau mit einer Krake Sex hatte. Ein anderer Film spielte hauptsächlich an einer blauen Linie. Die Linie bezeichnete den 100-Meter-Abstand zum Elternhaus der Frau, um die es ging. Sie hatte ihre Mutter geschlagen, die Mutter war mit dem Kopf aufs Klavier gestoßen und verlor 50 Prozent ihrer Hörkraft. Die Mutter verklagte die Tochter, und die durfte nun nicht mehr nach Hause. Es gab ein Abtreibungsdrama und eine Produktion, für die sich Frauen in ein Haus zurückzogen, um über ihre oft gewalttätigen sexuellen Erfahrungen zu reden. Außerdem war da der abgehalfterte Schlagersänger, der mit Fans im Seniorenalter gegen Geld sehr freudlos und mechanisch verkehrte und dabei Imperative in österreichischem Dialekt ausstieß.

 Als Tomasz „A E I O U – Das schnelle Alphabet der Liebe“ von Nicolette Krebitz gesehen hatte, sagte er, er komme mit aktuellen deutschen Produktionen nicht klar. Der Erfolg von „Toni Erdmann“ habe der Branche nicht gut getan. Er sehe überall nur noch Versuche, Richtung „Toni Erdmann“ zu zwinkern. Andreas Dresens „Rabiye Kurnaz vs. George W. Bush“ schaute er sich deshalb als einzigen der 18 Wettbewerbsbeiträge gar nicht erst an.

 Mein schönster Film-Moment war dieser: In „A propos de Joan“ beobachtet eine Französin, die als Au Pair in Irland ist, einen Fremden beim Stehlen. Sie verpfeift ihn nicht, weil sie ihn sympathisch findet. Sie gehen in ein Pub, und er fragt sie, wie ihre Gastgeber so seien. Nett, antwortet sie, aber sie schliefen getrennt, schon sehr lange. Es vergeht ein Moment, dann schiebt sie hinterher: „Das wird uns nicht passieren, oder?“ Neun Monate später sind sie zu dritt.

 Wenige Stunden, bevor ich ins Adlon aufbrechen wollte, wurde das Interview mit Isabelle Huppert abgesagt. Sie sei in Paris positiv auf Covid-19 getestet worden. Zum Glück zeige sie keine Symptome. Ich hätte sie gerne gefragt, ob sie in Wirklichkeit auch so furchtlos ist wie die meisten Figuren, die sie spielt.

 Meine Freundschaftsanfrage bei Facebook nahm Tomasz nach wenigen Minuten an.

 Ein Radiosender warb am Potsdamer Platz mit Plakaten für die Berlinale-Berichterstattung. Die Aufschrift lautete: „Nie tat es so gut, berührt zu werden.“

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