Essay zur Austrittswelle Warum ich aus der katholischen Kirche nicht austreten werde

Düsseldorf · Kirchenaustritte scheinen in Mode gekommen zu sein – und der Entschluss dazu, wird gerne als Ausweis einer kritischen Haltung öffentlich verkündet. Doch trotz aller Bedenken ist es meiner Meinung nach lohnend, zu bleiben.

 Lothar Schröder.

Lothar Schröder.

Foto: Krebs, Andreas (kan)

Ich bleibe.

Und wenn ich bekenne, weiterhin Mitglied der katholischen Kirche sein zu wollen, klingt das inzwischen nach einer recht speziellen Haltung. Denn Kirchenaustritte scheinen in Mode gekommen zu sein. Bei manchen Amtsgerichten in NRW soll die Nachfrage derart groß sein, dass Austrittstermine (allerdings auch Corona-bedingt) erst wieder im März zu haben sind.

 Der Entschluss, der Kirche den Rücken zu kehren, klingt stets nach kritischem Geist, nach Protest und Abstrafung, nach dem Ergebnis einer reiflichen Überlegung. Und darum werden Austritte und Austrittsvorhaben mittlerweile sehr öffentlich und möglichst prominent verkündet. Manchmal klingt das geradezu wie eine heroische Tat. Es sind aber auch mehr und mehr enttäuschte ältere und alte Menschen, für die der Kirchenaustritt selbst nach einem langen, engagierten Leben in einer Gemeinde keine Häresie mehr bedeutet.

 Für mich ist die Abkehr nie eine wirkliche Option gewesen. Weil Glaube meinem Leben und meiner Lebensführung geholfen hat und hilft und mir wichtige Leitplanken schenkt. Und weil Kirche zu meinem Glaubensverständnis dazugehört. Dabei bin ich kein fleißiger Kirchgänger und widersetze mich regelmäßig dem Gebot des sonntäglichen Besuchs der Messe. Das hat nicht nur (aber auch) damit zu tun, wie Gottesdienste gefeiert werden, in welcher Sprache vom Glauben dort die Rede ist und wie lebensnah Glaubensfragen gestellt werden.

 Ich stamme nicht aus einer streng katholischen, eher fröhlich katholischen Familie mit dem Hang zu einer gewissen religiösen Unverbindlichkeit. Messdiener bin ich geworden wie damals viele von uns und habe mich bei den abendlichen Gottesdiensten werktags immer gefürchtet, nach der abendlichen Messe in der großen neogotischen Kirche von St. Peter in Duisburg als einziger die Kerzen zu löschen – und beeilte mich dann, aus der Finsternis in die Sakristei zu flüchten. Ich habe einige Sommer-Freizeiten der Pfarre erlebt und nach der Schule viele Stunden in jenen kahlen Räumen der Gemeinden verbracht, die damals unter dem etwas kruden Namen „Jugendzentrum“ firmierten. Dass ich als Jugendlicher jeden Sonntag die Heilige Messe besuchte – selbst wenn ich nicht diente –, hatte unter anderem mit dem Schwager meiner Oma zu tun, der Küster der Gemeinde war und mich vom Altarraum aus fest im Blick hatte. Meine mitunter verodneten Kirchgänge dürften also mehr der familiären Gesichtswahrung geschuldet gewesen sein und weniger der geistigen Erbauung. Die Oma selbst war gottesfürchtig und eilte bei jedem Gewitter gleich in den Keller, um dort bei Kerzenschein die Mutter Gottes anzurufen, während wir oben aufgeklärt gelassen auf das Ende der ungemütlichen Klimaerscheinung warteten. Eine Schwester meiner Oma (die das Motorradfahren liebte) wurde Nonne, ein Bruder wollte Priester werden und wirkte letztendlich als feinsinniger Grundschuldirektor.

Das sind Erinnerungen an private Kirchen-Erlebnisse, die mich natürlich prägten und die vermutlich viele Menschen meines Alters teilen können. Verklären aber können solche Rückblicke heute nichts mehr. Denn zu desillusionierend ist Vieles, was ich als Katholik und als Journalist erleben und erfahren musste. Es scheint, als hätte es in den zurückliegenden Jahren kein anderes Kirchenthema als Missbrauch, Krise und Vertrauensverlust gegeben. Kirche ist zu lange schon keine Frage nur des Glaubens mehr.

 Auch für mich gibt es viel, womit ich hadere, was ich bedauere, was mich empört, was mich rat- und fassungslos zurücklässt. Dazu zählen die wortreichen und zumeist hochgelehrten Erklärungen zur Ökumene, die am Ende so wenig bedeuten, dass die meisten Christen von einer Abendmahlgemeinschaft nicht einmal mehr zu träumen wagen. Dazu zählt die Ausgrenzung von Frauen und die erschreckend geringe Bereitschaft, zu einem Diakonat der Frau überhaupt in einen ernsthaft offenen Dialog zu treten. Es gehört die Diskriminierung von Menschen dazu, deren sexuelle Orientierung nicht der katholischen Sexualmoral entspricht. Aber auch der Pflichtzölibat, der viele Seelsorger vereinsamen und mitunter ohne jede Unterstützung zurücklässt. Schließlich: der fassungslos machende, massenhafte sexuelle Kindesmissbrauch durch sogenannte geweihte Männer, denen wir die Sakramente anvertraut haben. Konkret muss ich auch die Weigerung von Kardinal Woelki anführen, die von ihm in Auftrag gegebene Missbrauchsstudie nicht zu veröffentlichen und sich damit dem Verdacht auszusetzen, vertuschen und Verantwortliche schützen zu wollen – und das über zehn Jahre, nachdem vermehrt Fälle von sexuellem Missbrauch öffentlich wurden.

Eine lange Liste ist das. Und vielleicht zu lang, um einen Verbleib in der Kirche rechtfertigen zu können.

Ich bleibe dennoch. Und der wichtigste Grund ist und bleibt die Botschaft Jesu, jenes Mannes, der am Kreuz gestorben ist: seine Feindes- und Nächstenliebe, seine Verkündigung, dass den Armen das Reich Gottes gehört und Überfluss nicht zu Glück und Seligkeit führt, seine Worte zur Weisheit der Kinder und zur tröstenden Gegenwart Gottes, der mitten unter uns ist; zwar nicht als ultimativer Retter aus jeder Not, aber doch als ein Mitleidender an unserer Seite. Und vieles mehr. Die vier Evangelien sind auch 2000 Jahre später noch das, was ihr Name prophezeit: frohe Botschaften. Vor allem sind sie einfach, verständlich, lebensnah. Und sie bleiben eine große Herausforderung, denn bis heute ist es uns nicht gelungen, diese Botschaft tatsächlich zu leben.

 Manchmal habe ich das ungute Gefühl, dass uns eine hochentwickelte Theologie von dieser Einfachheit der Worte Jesu entfremdet, praktisch wegtheoretisiert hat. Ich habe Gottesdienste erlebt, in denen eine Nähe erst beim Friedensgruß spürbar wurde: Der Friede sei mit Dir!

 Wenn der Glaube so groß und die Kirche so kritikwürdig ist, warum trete ich dann nicht einfach aus und glaube nur für mich weiter? Weil der Glaube keine Privatveranstaltung ist, weil Glaube immer auch Gemeinschaft heißt, die zum Kern von Glaubenspraxis und –vollzug gehört und eine gute Versicherung der Gläubigen untereinander ist: Wir sind nicht allein.

Die Gemeinschaft ist also nicht irgendeine Organisationsform unseres religiösen Lebens, sie ist Teil des Glaubens selbst, der sich auf das Zusammenleben bezieht, der den anderen meint und uns die Chance bietet, uns selbst im anderen besser zu erkennen. Communio ist die Kirchengemeinschaft und die Kommunion die Gemeinschaft mit Gott.

Es gibt so viele gute Menschen in der Kirche, denen ich begegnen durfte, die alles daransetzen, die Botschaft Jesu in unserer Zeit zu bewahren. Die sich engagieren, die scheitern und weitermachen, die wirken, anregen, retten. Dies ist nur in der Gemeinschaft möglich.

 Vor zehn Jahren hat der Theologe Hans Küng ein Buch mit dem Titel geschrieben: „Ist die Kirche noch zu retten?“ Auf die Frage findet er auch nach 260 Seiten keine Antwort, wohl aber das: „Ich habe die Hoffnung nicht aufgegeben, dass sie überleben wird.“ Das klingt vielleicht zu sehr nach Durchhalteparole. Doch ist Küngs Blick nach vorn gerichtet - aus einer Gegenwart heraus, die mehr denn je der Kraft und der Beharrung bedarf sowie der Zuversicht, dass eine andere, eine neue Kirche möglich sein wird.

Ich bleibe.

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