Erste Kunst zu Missbrauchsfällen

Zum 100-jährigen Bestehen der Odenwaldschule hat es eine erste künstlerische Auseinandersetzung zum Thema Missbrauch gegeben. Altschüler Dieter G. aus Solingen hat mit einer Künstlergruppe ein provokantes Hörspiel aufgenommen und eine Postkartenedition veröffentlicht.

Heppenheim/Solingen Hämisches Lachen erklingt aus den Boxen. Es ist das Lachen der Pädagogen, die Schüler über Jahre hinweg missbraucht haben. Die Lehrer spielen Skat in einer weinseligen Täterrunde. Sie geben unmoralische Lehrsätze von sich, verfremdete und umgedichtete Sprichwörter, Gedichte und auch Volksweisen. Diese wirken derbe, platt und abgeschmackt.

So entfalten die Wörter eine nachhaltige Durchschlagskraft bis in die Magengrube: "Disharmonie der Pädophilie", "Wir fuhren genitalien", "Unschuld kommt vor dem Fall".

5:28 Minuten dauert das Hörspiel mit dem Titel "Die Tränen der Knaben" – es ist eine erste künstlerische und direkt provozierende Auseinandersetzung mit den schweren Missbrauchsfällen an der Odenwaldschule im hessischen Heppenheim.

Altschüler Dieter G. aus Solingen, der das Internat von 1976 bis 1979 besuchte und dort sexuell missbraucht wurde, hat das Projekt angestoßen und zusammen mit einer Künstlergruppe, die ebenfalls aus Solingen stammt – dem Musiker Bernd Benz, dem Fotografen und Maler Stephan Haeger und der Grafikerin Elke Bojarski – eine Hörspiel-Installation zur offiziellen Ausstellung "100 Jahre Odenwaldschule" inszeniert.

Schulleiterin Margarita Kaufmann hatte zum Jubiläum der ehemaligen Knabenschule eine künstlerische Arbeit der Betroffenen angeregt. "Letztlich waren wir aber die Einzigen, die sich in dieser Form den Vorfällen genähert haben", sagt Haeger.

Das Hörspiel wird nicht einfach gehört – die beklemmende Situation wird nachempfunden. Der Zuhörer sitzt auf einem Sessel, der Kopf befindet sich unter einem Sperrholzhaus, das dem Herderhaus nachempfunden ist, in dem Dieter G. den Missbrauch erfahren musste. Von den Wänden erklingt das zynisch umgedichtete Hexengedicht "Morgens früh um sechs / gibt es erstmal Sex. Morgens früh um sieben / wird's noch mal getrieben ". "Wir haben nach einer Form gesucht, die Vorfälle auf die Spitze zu treiben", sagt Stephan Haeger zu diesen nicht immer leicht zu ertragenden Reimen.

Die Sätze sind böse und sarkastisch, bisweilen auch geschmacklos. Aber ein Satz wie "Ich sterbe mich aus der Verantwortung" – der sich auf den im Juli verstorbenen Ex-Schulleiter Gerold Becker bezieht – trifft mitten ins Zentrum der Vorwürfe und Befindlichkeiten. Der Hauptbeschuldigte starb kurz bevor ein Wahrheitsforum über den Missbrauch in den 70er Jahren zusammentreten konnte. Haeger: "Das Hörspiel soll erschüttern und polarisieren."

Einige Ideen seien anfangs noch heftiger gewesen, so Haeger. "Aber es steht in keinem Verhältnis zu dem, was die Kinder erleiden mussten." Für Dieter G., der noch immer psychisch unter dem Missbrauch in seiner Jugend leidet, sei dies eine Art der Auseinandersetzung, mit der er gut zurechtkomme: der Schritt in die offensive, schonungslose Kunst. "Obwohl so viel über die Missbrauchsfälle geschrieben wurde, ist es immer noch für viele ein Tabu, das wir durchbrechen wollen."

Derjenige, der unter dem stilisierten Herderhaus sitzt und der Täterrunde in Endlosschleife zuhört, wird selbst zum Betroffenen. Aber auch für die Passanten, die an der Installation vorbeigehen, sind die Sätze hörbar – wie Stimmen hinter verschlossen Türen. Sie werden zu Mitwissern. "Auch der Missbrauch wurde von außen wahrgenommen", sagt Haeger. Reagiert habe jedoch niemand. "Wir wollen mit unserer Installation erreichen, dass die Menschen sensibler hinhören und hinschauen." Plakate und eine Postkartenedition, die einzelne Passagen aus dem Hörspiel aufgreifen, ergänzen die künstlerische Auseinandersetzung. Mit Fotos sind die markanten Passagen auf den Postkarten unterlegt. Der Betrachter erkennt verschwommen das Herderhaus, eine grobkörnige Matratze oder Umrisse von Betten.

Die Reaktionen seien größtenteils positiv, berichtet Haeger. Wenngleich es einige Menschen gebe, denen diese Form der Auseinandersetzung zu weit unter die Gürtellinie gehe. "Wir wollen nicht abschrecken", sagt er, "sondern eine intensive Beschäftigung anregen." Nicht nur an der Odenwaldschule. "Jedes vierte Kind in Deutschland wird Opfer von Missbrauch." Die Installation soll, so der Wunsch der Künstlergruppe, künftig in weitere Internate, Bistümer und Schulen wandern. Haeger: "Es ist erschütternd zu sehen, wie früh der Missbrauch begonnen hat und wie lange er andauerte."

Infos zur Ausstellung

Die Ausstellung Die Hörspiel-Installation war ein Beitrag zur Sonderausstellung „100 Jahre Odenwaldschule“ im Kurfürstensaal des Kurmainzer Amtshofes in Heppenheim.

Die Ausstellung soll zur Aufklärung und Aufarbeitung der Missbrauchsfälle beitragen.

Die Edition Das Hörspiel, das Plakat sowie die zwölfteilige Postkartenedition „Die Tränen der Knaben“ gibt es unter: www.hodenwald.de

Kontakt Die Installation soll in verschiedene Schulen und Einrichtungen wandern.

Interessenten können sich bei dem Künstler Stephan Haeger aus Solingen melden - per E-Mail unter: info@hodenwald.de.

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