Debatte auf der Leipziger Buchmesse Wie Deutschland sich verhängnisvoll an das Gute gewöhnte

Leipzig · Nach drei Jahren Corona-Pause ist die Leipziger Buchmesse gestartet. Es wird also wieder gelesen und gestritten – vor allem über den Krieg in der Ukraine.

 Joachim Gauck, Bundespräsident a.D., stellt sein neues Buch „Erschütterungen“ auf der Leipziger Buchmesse vor.

Joachim Gauck, Bundespräsident a.D., stellt sein neues Buch „Erschütterungen“ auf der Leipziger Buchmesse vor.

Foto: dpa/Jens Kalaene

Erschütterungen in Leipzig. Die aber werden ausnahmslos von Büchern ausgelöst. So hat der frühere Bundespräsident Joachim Gauck gewissermaßen tonangebend sein neues Buch „Erschütterungen“ betitelt, das er auf der Frühjahrsmesse vorstellt und in dem es gesellschaftlich zunächst einmal finster zugeht. Gauck spricht von einer „Wahrnehmungslücke" in der deutschen Gesellschaft, in der sich nicht wenige Menschen die Welt so zurecht schauten, wie sie ihnen grad gefalle. Nämlich ruhig, beschaulich, schön und friedlich.

Mit dem Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine ist eine solche Haltung aber wenigstens diskutierbar geworden. Gauck geht mit solchen naiven Vorstellungen strenger ins Gericht, auch mit Haltungen innerhalb seiner evangelischen Kirche: Wer in seinem privaten Leben sich völlig pazifistisch verhalten könne – Respekt!, meint er. Wer aber einen bedingungslosen Pazifismus im politischen Handeln zu integrieren versuche, würde nach seinen Worten „unverantwortlich“ agieren. Auch der Name von Margot Käßmann, der früheren EKD-Ratsvorsitzenden fällt.

Die „Erschütterungen“ hat Gauck gemeinsam mit der Journalistin Helga Hirsch geschrieben und sind der Versuch eines unverkrampft realistischen Blicks auf die deutsche Gesellschaft des Jahres 2023. Sie sind eine Ergänzung zur vielzitierten Zeitenwende: mit der Forderung nach einem „Mentalitätswandel“ in einer Wohlstandsgesellschaft, in der so lange eine „verhängnisvolle Gewöhnung an das Gute“ geherrscht habe – und nun in Zeiten vielfacher Krise der Glaube an den Sinn unserer Demokratie zumindest an den Rändern zu bröckeln beginnt. Und damit einer Partei wie der AFD – die Gauck eine „überflüssige Partei" nennt – weiterhin Zuwächse beschert.

Was tun? Also mehr Waffen? Ja. Und mehr Wehrhaftigkeit? Auch das findet Gaucks Zustimmung. Mehr Ehrlichkeit, Probleme zu benennen? Das auf jeden Fall. Wie bei der Einwanderungsdebatte, ein heißes Eisen also, das der 83-Jährige mit der Souveränität eines ehemaligen Bundespräsidenten sich nicht scheut zu schmieden. Er erinnert an seine früheren Worte zur Einwanderung, wonach unser Herz zwar weit ist, die Möglichkeiten aber endlich seien. Gerade in Krisensituationen wie den aktuellen könnten bei vielen Menschen Gefühle der Überforderung, gar der Bedrohung schneller aufkommen, als es einer Demokratie recht sein könne. Menschen aber, die Einwanderer erst einmal als fremd empfinden, seien noch lange keine Rassisten, so Gauck. Aber warum diese Hinweise? Damit solche Diskussionen in der Mitte der Gesellschaft geführt werden, nicht aber an den Stammtischen der Republik.

Nach drei Corona-Jahren steht die erste Leipziger Buchmesse zwar nicht im Zeichen des Krieges, dafür ist das Angebot der 2082 Aussteller aus 40 Ländern viel zu bunt. Doch ist in Leipzig – der Partnerstadt Kiews und von dieser knapp 1500 Kilometer entfernt – das Schreiben, Lesen und Reden über den Krieg in der Ukraine nicht wegzudenken und unüberhörbar.

Etwa in Halle 4, wo sich der Sozialpsychologe Harald Welzer mit dem Historiker Gerd Koenen im Forum der Meinungsfreiheit streiten darf. Welzer, der mit Richard David Precht jüngst das Buch „Die vierte Gewalt“ schrieb und damit reichlich Kritik hervorrief, wirft den Medien gerade in Fragen des Krieges und möglicher Waffenlieferungen ein homogenes Meinungsbild vor. Während Koenen das genaue Gegenteil wahrnahm. Vor allem verwies der Historiker darauf, dass mit dem Überfall Russlands etwas Ungeheures passiert sei, das auch ein neues Denken erfordere. Denn es sei nicht „irgendein Krieg, der da geführt wird“, vielmehr solle militärisch ein großes Land in Europa von der Landkarte verschwinden. Und das hat es, so Koenen, „seit dem Zweiten Weltkrieg noch nicht gegeben“.

Es gibt auf dieser Messe noch viel zu diskutieren, zu bedenken, zu lesen. Aktuelles zum Krieg in der Ukraine besonders dies: Gerd Koenen: „Im Widerschein des Krieges. Nachdenken über Russland“, C.H. Beck, 317 Seiten, 20 Euro; Joachim Gauck, Helga Hirsch: „Erschütterungen. Was unsere Demokratie von außen und innen bedroht“, Siedler, 238 Seiten, 24 Euro; Richard David Precht; Harald Welzer: „Die vierte Gewalt“, S. Fischer, 288 Seiten, 22 Euro.

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