Ballettpremiere in Düsseldorf Carmen verführt, Baal berauscht

Düsseldorf · Die neue Ballettproduktion der Deutschen Oper am Rhein bietet einen vergnüglichen und zugleich berührenden Abend mit einer präzisen Carmen und einem beeindruckenden Baal. Der Titel „I am a problem“ ist irreführend.

 Gustavo Carvalho als Don José und Futaba Ishizaki als Carmen tanzen die Schlafzimmerszene aus Roland Petits „Carmen“.

Gustavo Carvalho als Don José und Futaba Ishizaki als Carmen tanzen die Schlafzimmerszene aus Roland Petits „Carmen“.

Foto: Ingo Schäfer

Sie provozieren und tanzen aus der Reihe, sie sind anziehend und abstoßend zugleich. Carmen und Baal sind zwei schillernde, so unterschiedliche Figuren der Kulturgeschichte. Das könnte zum Problem werden, wenn man sie in einem Ballettabend zeigt. Wird es aber nicht, wenn man sie so klug vermählt wie jetzt bei der Premiere von „I am a problem“ in der Deutschen Oper am Rhein in Düsseldorf.

Da ist die Carmen, choreografiert von Roland Petit, mit den mitreißenden, populären Melodien von Georges Bizet, ein Handlungsballett, unterhaltsam-keck im Varieté-Stil. Und da ist dieser Tunichtgut von einem Dichter Baal, den Bertolt Brecht 1918/1919 schrieb und der nun erstmals vertanzt wird nach einer Choreografie von Aszure Barton und der eigens dafür geschriebenen Musik von Nastasia Khrustcheva.

 Der 19-jährige Miquel Martinez Pedro und Simone Messmer in „ Baal“.

Der 19-jährige Miquel Martinez Pedro und Simone Messmer in „ Baal“.

Foto: Ingo Schäfer

Es wäre unfair, diese beiden Arbeiten gegeneinander auszuspielen. So wie man einen lauen Sommerabend auf dem Eiffelturm nicht mit einem Waldspaziergang im Schnee vergleichen kann. Beides hat seine Reize. Das eine ist fein, gediegen, das andere erfrischt, bedarf aber einer gewissen Anstrengung.

 Berührendes Miteinander von Baal (Miquel Martinez Pedro) und Ekart (Julio Morel).

Berührendes Miteinander von Baal (Miquel Martinez Pedro) und Ekart (Julio Morel).

Foto: Ingo Schäfer

Auf die erwartbar unterhaltsame Carmen folgte der erwartbar düstere und dann so brillante Baal, der am Ende mit Ovationen belohnt wurde. Und doch stehen Carmen und Baal nicht als Fremdkörper nebeneinander. Bei aller Verschiedenheit der Figuren und Stile ist es dem Team um Ballettdirektor Demis Volpi gelungen, sie thematisch-tänzerisch zu verschmelzen. Sie beide verführen, lieben, flirten, stoßen weg und verlassen Menschen. Sie weigern sich, sich den Regeln der Gesellschaft zu beugen, sie kämpfen,  kokettieren, rebellieren und verlieren.

 Doris Becker und Kauan Soares sind in der „Carmen“ zwei mitreißende Banditen.

Doris Becker und Kauan Soares sind in der „Carmen“ zwei mitreißende Banditen.

Foto: Ingo Schäfer

Wenn Roland Petits „Carmen“ zur Aufführung kommt, ist großes Kino angesagt. Nicht umsonst war Petit später in Hollywood tätig. Nostalgisch-opulent und aus der Zeit gefallen ist diese „Carmen“. So oder so. Sie spielt nach Prosper Mérimées Novelle im 19. Jahrhundert. Die Ballett-Uraufführung war 1949 mit Zizi Jeanmaire als Carmen und mit Roland Petit als Don José. Diese Choreografie ist so und nicht anders eingefroren – von der Attitude bis zu Carmens kecker Kurzhaarfrisur.

Präzise und auf tänzerisch hohem Niveau setzt Team Carmen das um. Futaba Ishizaki gibt eine fragile Carmen, die der Ur-Carmen Zizi Jeanmaire schon rein optisch das Wasser reicht, blitzsauber in Fußarbeit, Posen und Pirouetten. Man würde ihr mehr etwas mehr Selbstverständlichkeit in der Keckheit wünschen, ein bisschen mehr Selbstvertrauen in ihre Verführungskraft. Ihr Partner Don José ist Gustavo Carvalho, der eine starke Performance als stolzer Spanier hinlegt. Hinzu kommen die drei Banditen Doris Becker, Pedro Maricato und Kauan Soares. Sie geben dem Stück die clownesken Noten, und Doris Becker mischt die Bande immer mal wieder mit wirbelnden Drehungen, den Fouettés, auf.

Der zweite Teil des Abends ist das Überraschungsei. Die Wahl der kanadischen Choreografin Aszure Baron lässt erahnen, dass es beim Team Baal zeitgenössischer zugeht.

Der 19-jährige Miquel Martinez Pedro zeigt einen packenden, sehr emotionalen, fast schon liebenswerten Unsympathen Baal. Dieser Dichter säuft, verletzt und verführt, hemmungs- und gewissenlos. Er hebt sich von der grau gekleideten Menge seiner Mittänzer ab. Mit seinen Partnern und Partnerinnen – unter anderem Simone Messmer – liefert er sich Tanzduelle. Sie verkeilen und verknoten, schlagen und treten sich anmutig. Es braucht keine plakative Nacktheit, um das Sexuelle und die Gewalt dieser Szenen zu übersetzen. Es reicht die Sprache des Tanzens, die aus dem Ballett und dem zeitgenössischen Tanz schöpft.

Besonders berührend sind die Tänze von Baal und seinem besten Freund Ekart, getanzt von Julio Morel, deren Verbundenheit allein aus der Synchronität der Sprünge spricht. Choreografin Aszure Barton erweist zudem Roland Petit die Ehre, indem sie Posen aus der Schlafzimmerszene von Carmen und Don José zitiert. So liegen Ekart und Baal in derselben erotischen Stellung wie Carmen auf Don José.

Barton hat mit „Baal“ nach einigem Zögern ihr erstes Handlungsballett wahrlich gemeistert. Sie hält sich eng an die Vorlage von Bertolt Brecht. Ja, es werden sogar immer wieder Zitate – graffiti-gleich – an die Wand projiziert. Dabei ist es ihr gelungen, aus literarischer Vorlage, Tanz und Musik eine Einheit zu schmieden.

Die Musik ist den Tänzern auf den Leib geschneidert, eine Auftragsarbeit von Nastasia Khrustcheva, in enger Absprache mit Barton und dem Team entstanden. Sie vertont den Rausch, die Gewalt, die Verführung. Sie ist roh, wild, ungehobelt und auch pompös-verspielt wie Baal, treibt in ihren wiederholten minimalen Mustern den Rausch voran, rhythmisch, hemmungslos.

Die Düsseldorfer Symphoniker unter Leitung von Martin Braun setzen das bravourös um und liefern im Orchestergraben eine ebenso gute Performance ab wie die Spitzentänzer auf der Bühne. Allen voran mit Aleksandr Ivanov am Klavier

Dem Baal von Bertolt Brecht möchte man eigentlich nicht begegnen. Den Baal von Barton indes will man immer wieder tanzen sehen.

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