Lesung mit Olivier Guez im Heinrich-Heine-Institut Eine Reise durch Europas Vergangenheit

Düsseldorf · Mit „Le Grand Tour – Autoportrait de l’Europe par ses écrivains“ publiziert Olivier Guez eine Anthologie, die sich ganz dem Thema Europa widmet – seiner Kultur, seiner Historie und zwischen den Zeilen auch seiner Zukunft.

Schriftsteller, Journalist und Autor Olivier Guez.

Schriftsteller, Journalist und Autor Olivier Guez.

Foto: Charles Yunck / imago

27 Schriftsteller, 27 EU-Mitgliedstaaten, 27 Texte. Als Journalist und Autor Olivier Guez sein Buchprojekt startete, schwebte ihm ursprünglich ein literarisches Austauschprogramm vor. Er wollte Schriftsteller in für sie fremde Länder schicken, sie die dortige Kultur entdecken lassen. Doch Bürokratie und Kosten macht ihm einen Strich durch die Rechnung. Stattdessen kontaktierte der Franzose 27 Autoren – teils Freunde, teils ihm völlig Fremde – und bat sie, anhand eines berühmten oder persönlichen Ortes das eigene europäische Heimatland vorzustellen.

Entstanden ist der Essayband „Le Grand Tour – Autoportrait de l’Europe par ses écrivains“ (zu deutsch: Literarisches Selbstporträt Europas): ein Buch über kulturelle Identität, europäische Vergangenheit und der Sehnsucht nach Solidarität, die laut Guez immer noch nicht existiert. „Der Ukraine-Krieg zeigt: Wir sind noch keine große Familie“, sagt er. Drei ins Deutsche übersetzte Texte hatte Guez mit ins Heinrich-Heine-Institut gebracht.

Agata Tuszyńska erzählt in ihrem Text von jüdischem Leben in Europa. Sie berichtet vom Verdrängen ihrer im Krieg geborenen polnischen Eltern. Deren Schweigen ging so weit, dass Tuszyńska selbst lange Zeit ihre eigene Geschichte nicht gekannt habe. Die Familie lebte im Warschauer Ghetto, wurde abgeschottet von der sogenannten „arischen Seite“, hinter einer drei Meter hohen Backsteinmauer und Stacheldraht. 450.000 Menschen lebten mit bis zu zehn Personen in einem Zimmer, Essen gab es wenig. „Jene Mauer ist immer noch in mir“, schreibt die Autorin.

Während die Portugiesin Lídia Jorge Europas Vergangenheit als Sklavenhalter thematisiert, schreibt Daniel Kehlmann über eine Führung durch die Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen – „das Gefängnis, das es nicht gab“. Eine ehemalige Gefangene erzählt von Nachkriegszeiten, in denen jeder jeden überwachte und selbst Stasi-Mitglieder sich gegenseitig misstrauten. Sie erinnert sich an den Kaffee: in der Zelle eine ekelhafte Plörre, im Verhörraum exzellent – zur Entspannung, damit man rede. Und sie erinnert sich an die Folterräume der russischen Besatzungsmacht im Untergeschoss.

Herausgeber Olivier Guez zeigt in seinem Sammelband nicht nur kulturell relevante Orte auf, er verdeutlicht auch, welche Krisen und Kriege einem heutigen Zusammenhalt in Europa aus seiner Sicht noch immer entgegenstehen. „Es gibt keinen anderen Kontinent, der so viel über seine Vergangenheit nachdenkt“, sagt er. Trotzdem ist er überzeugt: „Das letzte Jahrhundert war schrecklich für Europa. Wir haben uns selbst zerstört.“ Die EU habe es nicht geschafft, den Menschen eine gemeinsame Identität zu geben, sie zu einer großen Familie zu machen. „Aber wir haben eine gemeinsame Zukunft.“

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