Unser Buch der Woche Die langen Schatten der Vergangenheit
Venedig · Der neue Krimi von Bestsellerautorin Donna Leon heißt „Wie die Saat, so die Ernte“: Commissario Brunetti hat diesmal mit dem tödlichen Erbe der Roten Brigaden zu tun.
Im November kann es ungemütlich in Venedig werden. Nebel wabert, Melancholie liegt in der Luft. Die richtige Zeit, um von einigen Dingen Abschied zu nehmen. Zum Beispiel von alten Büchern, die ungelesen im Regal verstauben, oder die einem heute wegen ihres politischen Furors peinlich sind. Auch Commissario Brunetti hat viele solcher Bücher, die ihn an Debatten über die Herrschaft des Kapitals, die Ausbeutung der Arbeiterklasse und die Notwendigkeit der Revolution erinnern.
Eigentlich hatte Brunetti den Terror der Roten Brigaden tief ins Vergessen hinabgesenkt. Doch die Schatten der Vergangenheit sind lang. Irgendwann kommen die Sünden und Verbrechen wieder ans Tageslicht. Bis dahin kann Brunetti noch viele Bücher aussortieren und sich mit der Familie beim Abendessen über artgerechte Tierhaltung und Fleischverzicht unterhalten. Sich mit seinem Mitarbeiter Vianello für einen Kollegen einsetzen, der privat an einer Demo von Homosexuellen teilgenommen hat und im Handgemenge von der Polizei verprügelt wurde. Mit Kollegin Griffoni Gerüchte erörtern, die über einen kriminellen Kunsthändler im Umlauf sind. Auf Bitten eines Bekannten sich einen alten Palazzo ansehen, der angeblich zum Verkauf steht.
So vergehen die Tage. Und viele Seiten des neuen Romans von Donna Leon. Die Autorin nimmt langen Anlauf, legt Fährten und Finten, verstreut Puzzleteile, die sich, wie von Geisterhand sortiert, zu einem Gesamtbild vereinen. Erst auf Seite 103 klingelt bei Brunetti das Handy: In einem Kanal wurde eine Leiche gefunden. Der Tote stammt aus Sri Lanka und lebte seit Jahren illegal in der Lagunenstadt. Aber hatte Brunetti ihn nicht vor ein paar Tagen zufällig getroffen, als er versuchte, sich Zugang zu dem heruntergekommenen Palazzo zu verschaffen und von dem unbekannten Mann, den Brunetti für den Gärtner hielt, wortkarg abgewiesen wurde?
„Wie die Saat, so die Ernte“ ist der 32. Fall, den Brunetti im Auftrag von Donna Leon lösen muss. Doch von Ermüdung keine Spur. Der Plot, so beiläufig er vorbereitet wird, entwickelt sich zum spannenden Polit-Drama, zur gnadenlosen Abrechnung mit den Verfehlungen der Vergangenheit und den verblichenen Idealen. Der Ermordete war, wie Brunetti, ein Vielleser. In seinem Regal stehen Bücher über den Terror der Roten Brigaden, Aufrufe zur Revolution. Warum hat sich ein friedlicher Buddhist mit solch radikaler Lektüre beschäftigt? Warum besaß er Überreste eines menschlichen Knochens? Welche Rolle spielt der Professor, der dem Illegalen Unterschlupf gewährte? Was verbindet ihn mit dem kriminellen Kunsträuber, außer dass die beiden einst Studienkollegen waren und gegen einen später spurlos verschwundenen Politiker polemisierten? Ein Berg von Fragen türmt sich auf. Dass Brunetti sie nur beantworten kann, wenn er auch seine eigenen politischen Jugendsünden ins Visier nimmt, ist für den Commissario schmerzlich. Für den Leser aber ein intellektueller Genuss.
Info Donna Leon: „Wie die Saat, so die Ernte“, Commissario Brunettis 32. Fall. Übersetzt von Werner Schmitz. Diogenes Verlag, 316 Seiten, 26 Euro