Dokumentation über Europa in den Abendstunden

Dokumentarfilm In "Abendland" reiht Nikolaus Geyrhalter ohne Kommentar Bilder aus dem Alltag aneinander

Polizisten machen Schießübungen vor der Leinwand. Pornodarsteller simulieren Lust. Ein Frühchen liegt im Summen eines Brutkastens. Der Papst versucht bei einer Großmesse, Priestern aus aller Welt zu erklären, wie sie ihre Rolle in der sich schnell wandelnden Gesellschaft finden können. Was all das miteinander zu tun hat? All das sind Szenen aus Nikolaus Geyrhalters Dokumentarfilm "Abendland".

Der Titel ist Provokation und Einordnung gleichermaßen. Einen anderen Kommentar als den Titel wird der österreichische Filmemacher ("Unser täglich Brot") über die 94 Minuten seines Films nicht liefern. Die Tonspur gibt lediglich das jeweilige Geschehen vor Ort wieder. Geyrhalter hat in den Abend- und Nachtstunden gedreht. Es ist nicht schwer, daraus abzuleiten, dass er einen Kulturraum am Ende seiner kreativen Potenziale zeigen will. Aber man sollte bei diesen Bildern von Asylantenunterkünften, Krematorien und Paketsortierbändern vorsichtig sein mit der eindeutigen Festlegung.

Geyrhalter glaubt wie wenige andere an die Kraft von Filmbildern. Gewiss, man kann eine Gruppe Szenen herausfiltern, jene, die mit Abgrenzung zu tun haben, ob das nun Grenzpatrouillen am Rand des Schengen-Raumes sind oder Arbeiter in einem Hightech-Labor, die an einem Kampfjet werkeln. Aber Geyrhalter zeigt nicht nur die Grenzen, sondern den umgrenzten Lebensraum.

Sucht man für diese zweite Klasse von Szenen eine Kategorie, könnte man sagen, dies seien Abläufe und Situationen, in denen sich die Werte des Abendlandes offenbarten. Kaum aber ist das ausgesprochen, merken wir, wie beliebig dieses Etikett verwendbar ist. Gibt es irgendeinen Moment des Lebens, in dem wir nicht nach Werten oder dem Verrat an ihnen forschen könnten? Diese Beliebigkeit entwertet ausnahmsweise nicht das Etikett selbst. Sie macht auf den Umstand aufmerksam, dass Werte überall auf dem Prüfstand stehen oder verletzt werden können. Geyrhalter geht mit "Abendland", dieser Aneinanderreihung von Alltagsbeobachtungen, zurück zu den Anfängen des Kinos. Damals empfand man alles als neu und großartig, weil es Filmbild geworden war. Geyrhalter kann uns dieses Gefühl mitten in der Flut entwerteter Bilder noch einmal vermitteln. llll

(RP)
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