Dieser Maestro konnte viel mehr als nur Dvořák und Smetana

An den großen Dirigenten Rafael Kubelik erinnert die Deutsche Grammophon mit einer 64-CD-Box. Höhepunkte sind Beethoven und Mahler.

Man lädt sie ein, weil sie angeblich stets einen dicken Rucksack aus der Heimat mitbringen. Der neue GMD aus Russland ist natürlich Spezialist für Tschaikowski und Prokofieff, der Maestro aus Spanien wird immer mal wieder de Falla auf den Spielplan setzen, der Finne am Pult wird die Symphonien von Sibelius aufführen, der Franzose wird mit Debussy und Ravel aufwarten.

Auch von Rafael Kubelik (1914 bis 1996) erwarteten die Musikfreunde, wo immer er auftrat, eine deftige Portion Tschechisches. Dvořák natürlich oder Smetana, vielleicht auch Janáek. Kubelik erfüllte diese Wünsche gern, aber seinem Wesen nach war er kein Spezialist, sondern ein Generalist. Schon in seinen kurzen Kriegsjahren als Chef der Tschechischen Philharmonie achtete er auf die Breite des Repertoires, auf Beethoven und Mozart, auf Schubert und Schumann. Was er tat, das tat er mit großer Einsicht in den Geist der Werke, mit Wärme, Hingabe und nicht zuletzt tiefer Menschlichkeit. Jetzt stellt die Deutsche Grammophon ihr Schallplattenvermächtnis dieses wunderbaren Dirigenten in einer epochalen Box vor.

Darin imponieren natürlich die 18 Jahre von 1961 bis 1979, in denen er als Chefdirigent des Symphonieorchesters des Bayerischen Rundfunks wirkte. Zuvor hatte er am Royal Opera House in Covent Garden (London) gewirkt und sich und seinen Fans gründlich den Ruf abtrainiert, ein Fachmann zu sein. Das merkt man beim Hören beispielsweise in Kubeliks schöner "Lohengrin"-Produktion (mit James King in der Titelpartie und Gundula Janowitz als Elsa); man merkt es bei Mozarts sinnlich und stilvoll interpretierter "Haffner"-Serenade und bei Webers herrlich fluiden Klarinettenkonzerten. Aber wenn man sich dann mal die wenig bekannten frühen Dvořák-Sinfonien orchestral von Kubelik erzählen lässt, dann wundert man sich, wieso diese vibrierende, im schönen Sinne pathetische, aber doch schon sehr prozesshafte komponierte Musik so selten aufgeführt wird. Kubelik erfüllt hier mehr nur ein vaterländische Pflicht: Er zeigt uns, wie Leidenschaft und Hingabe aus unterschätzter Musik etwas ganz Großes machen können.

Ein weiterer Glanzpunkt ist Kubeliks bis heute einzigartiges Beethoven-Projekt. Alle neun Sinfonien hat er mit neun verschiedenen Orchestern eingespielt, vom Orchestre de Paris über das London Symphony Orchestra bis zu den Berliner Philharmonikern. Und es gelingt Kubelik das Kunststück, den Orchestern ihre klangliche Eigenart zu belassen und trotzdem prägend und formend einzugreifen. Natürlich ist dieser Beethoven nicht historisch informiert, nicht spurlinientreu, nicht entschlackt. Aber das Energisch-Drängende des Musik kommt wunderbar heraus - wie überhaupt man bei Kubeliks Musizieren nie Stillstand erlebt, sondern Atem, Bewegung, Glut.

Diese Eigenschaften machen den Zyklus aller zehn Mahler-Sinfonien zum Höhepunkt der Edition. Kubelik war der erste Dirigent, der nach dem Zweiten Weltkrieg eine komplette Edition in Angriff nahm. Seine Sicht auf Mahler ist nicht auf Katastrophen, sondern auf Dualität geeicht. Kubelik lässt die Elemente miteinander sprechen, nicht aufeinander prallen. Das Heilige und Fromme ist eine dialektische Gegenseite der Verwüstungen, beide sind Gestalten eines sinfonischen Modells - und wie Kubelik es mit dem BR-Orchester aufführt, ist ein erhebender Genuss. Kostbar auch das Interview über Mahler auf einer der beiden beigefügten DVDs.

Was es sonst noch gibt in diesem Fest für Entdecker? Eine faszinierend-ergreifende Sicht auf Bartóks Konzert für Orchester, zwei mit Mut und Enthusiasmus realisierte Hartmann-Sinfonien, eine schier aus dem Boden des Urglaubens emporschießende Version von Janáeks "Glagolitischer Messe", eine bekenntnishafte Hinwendung zu Haydns "Paukenmesse". Und vieles, vieles mehr. Aber natürlich gibt es trotzdem die bis heute schönste Aufnahme von Smetanas "Vaterland" mit der glücklicherweise niemals versiegenden "Moldau".

Info "Rafael Kubelik - Complete Recordings on Deutsche Grammophon"; 64 CD, etwa 110 Euro

(w.g.)
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