Neuentdeckung von „Nighthawks“ und Co. Wie von Hopper

Die Werke von Edward Hopper werden tausendfach im Internet geteilt. Sie bieten Trost in Zeiten der Entfremdung.

Man schaut anders auf die Welt in diesen Tagen, mit anderen Augen, wie man so sagt, und deshalb nimmt man Altbekanntes mitunter neu wahr. Die Gemälde von Edward Hopper zum Beispiel. Der amerikanische Maler starb bereits 1967, Kopien seiner Arbeiten schmücken Wartezimmer von Ärzten weltweit ebenso wie Postkarten und Postergalerien. Manche dieser Motive wirkten geradezu abgeschaut und blass geguckt, weil so viele Blicke über sie hinweggewischt sind und man sie so oft gesehen hat, dass man gar nicht mehr den Kern des jeweiligen Kunstwerks wahrnahm, sondern nur noch eine Marke: Hopper!

Aber das ist jetzt anders, Edward Hopper ist der Maler der Corona-Krise. Es ist, als sei ein Schleier von der Linse gewischt worden: Man spürt plötzlich die Kraft und Eindringlichkeit dieser Bilder. In den sozialen Netzwerken teilen die Menschen seine Werke. „Morning Sun“ aus dem Jahr 1952 vor allem, aber auch „Cape Cod Morning“ (1950) und natürlich sein allerberühmtestes Bild, die „Nighthawks“ von 1942. Das zeigt ein Diner in New York, drei Gäste sitzen am Tresen, dahinter arbeitet der Barmann, und keiner sieht den anderen an, alle bleiben für sich, gemeinsam allein. Dieses Gefühl, dass man zusammen einsam ist, treibt derzeit viele Menschen um. „Social distancing“ ist der Begriff der Stunde, „together at home“ lautet das Stichwort bei Twitter. Und Hopper, so scheint es, hat beides bereits Jahrzehnte zuvor ins Bild gesetzt.

Der erste, dem die Parallelen der zeitgenössischen Gefühlswelt zu der in Hoppers Bildern aufgefallen ist, war der amerikanische Autor Michael Tisserand. Er twitterte vor wenigen Tagen die berühmten Bilder und versah sie mit dem Kommentar: „Wir sind jetzt alle Hopper-Gemälde.“ Viele nahmen das auf, teilten die Bilder und ließen sich von ihnen inspirieren. Inzwischen kursieren Abwandlungen, Bearbeitungen und Karikaturen. In einer sieht man das Diner aus „Nighthawks“ ganz ohne Menschen, in einer anderen sind Rollläden vor dem Fenster – daran hängt ein Schild: „Stay Home!“. Bleibt zuhause.

Das Werk von Edward Hopper eignet sich so gut für die aktuelle Situation, weil es von den Zwischenräumen lebt. „Nighthawks“ zeigt ja mehr als vier Personen im Restaurant. Es hat etwas Erzählerisches und Unheimliches, deshalb ist etwa auch ein Filmregisseur wie Wim Wenders so fasziniert von Hopper. Man tritt als Betrachter gleichsam in das Bild hinein, man stellt sich unweigerlich Fragen: Was verbindet diese Menschen? Was ging der Szene voraus? Was wird auf sie folgen? Und wo sind denn alle anderen? Irgendetwas scheint passiert zu sein, vielleicht ist das aber auch der Moment, bevor etwas passiert. Jedenfalls dräut da irgendetwas im Hintergrund.

Edward Hoppers Personal befindet sich an abgelegenen Orten, es wurde dem Strom der Menschen entrissen. Das sind aber eher keine Rückzugsorte, sondern Inseln der Entfremdung, auf die sie die Moderne gespült hat. Diese Figuren sind verborgen und zugleich ausgestellt, die „Nighthawks“ sitzen in einem Aquarium, das an ein Gefängnis erinnert: Alptraum im Alpraum. Seelensteppe. Gedankentundra. Und so geht es uns jetzt auch, das ist die Verwandtschaft zwischen wirklichen Menschen und gemalten: Wir sitzen beklommen zuhause und zeigen uns und unsere Gedanken im Internet. „Porträts der Conditio Humana“ hat John Updike die Bilder Hoppers genannt. Lange her, immer noch gültig.

Hoppers Figuren wirken, als wüssten sie nicht, wer oder was da gleich kommt. Die Kulturwissenschaftlerin Olivia Laing hat Hoppers Bilder in ihrer tollen Einsamkeitsstudie „The Lonely City“ deshalb als „Spiegel einer Wahrsagerin“ bezeichnet: Man schaut hinein und sieht eine Zukunft ohne Versprechen. Hoppers Bilder zeigen Transiträume. Das, was man nicht sieht, ist ebenso wichtig wie das Abgebildete. Das ist denn vielleicht auch das Tröstliche: Dass der Maler nicht nur zeigt, wie Einsamkeit aussieht, sondern auch, wie sie sich anfühlt. Hopper versteht uns, er reicht uns die Hand über die Zeiten hinweg.

Viele seiner Bilder hängen zurzeit in der Fondation Beyeler in Basel, bis Mitte Mai sollte die große Ausstellung laufen; und man hatte mit viel Publikum gerechnet. Wegen des Corona-Virus sind die Hallen indes leer: Es kommt kein Mensch. Niemand darf hinein, um sich die Werke anzusehen.

Alle Bilder sind still, aber manche sind stiller als andere.

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