Stockholm Die Stenografin des Krieges

Stockholm · Die weißrussische Autorin Swetlana Alexijewitsch bekommt völlig zu Recht den Literaturnobelpreis.

Als wir uns vor gut eineinhalb Jahren in Berlin trafen, war ein Dolmetscher nötig. Dabei hatte sie schon zwölf Jahre des Exils in Schweden und auch in Deutschland hinter sich. Doch ihre Muttersprache wollte Swetlana Alexijewitsch in all der Zeit nicht ablegen. Sie schien für sie nicht nur ein letzter Brückenschlag zu ihrer weißrussischen Heimat zu sein. Sondern auch zu den Menschen dort. Ihnen hat die Autorin alle fünf Bücher gewidmet; Hunderten von Menschen, die sie zu Afghanistan befragte, zu Tschernobyl, zum Krieg. "Stimmen, Stimmen ... die Gesichter verschwinden aus meiner Erinnerung, die Stimmen aber bleiben", sagte sie vor zwei Jahren in der Frankfurter Paulskirche, in der sie den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels bekam. Eine weitere hohe Auszeichnung wurde ihr gestern mit dem Literaturnobelpreis zugesprochen.

Was Alexijewitsch bei ihrer Recherche zu hören bekam, waren keine scheinbar gewichtigen Statements zur allgemeinen und somit abstrakten Großlage. Sie hörte von einer Verzweiflung, die längst jede Hoffnung hinter sich gelassen hatte. Und Alexijewitsch hat alles notiert, was die Menschen ihr sagten; und hat dies alles zu einer großen Weltklage vereint. Ihre Bücher sind die Totentänze des 21. Jahrhunderts.

Swetlana Alexijewitsch ist auch in die verstrahlte Zone rund um Tschernobyl gereist und hat die Busse gesehen mit all den Einwohnern, die flüchteten. Davor standen die zurückgelassenen Haustiere. Eine Frau sagte ihr: "Die Vögel am Himmel ... die Tiere im Wald ... wir alle haben sie verraten. Unserem geliebten Hund Scharik haben wir einen Zettel dagelassen: ,Verzeih uns, Scharik!'" Und dann ist sie in der Tschernobyl-Region noch der alten Frau begegnet, eine von drei Überlebenden ihres Dorfes. Mit wem sie noch spreche, wollte Alexijewitsch von ihr wissen. "Mit allen, den Toten und den Lebenden", bekam sie zu hören.

Das Ungeheuerliche an ihrem Werk ist, dass ihre Bücher ineinander zu fließen scheinen - wie zu einem großen, unheimlichen Urtext, der irgendwo existiert und lediglich mitgeschrieben werden musste. Die gelernte Journalistin hat ihre Bücher selbst einmal als "Rote Enzyklopädie" bezeichnet, die von blutigen Kriegen handelt, vom Kommunismus, vom Imperium der Sowjets, von ihrer weißrussischen Heimat.

Es gibt keine Helden in ihren Büchern, nur Opfer, nur Geschundene. Sie betreibt somit eine Art Anti-Propaganda und setzt den Epen einer glorreichen und männlich geprägten Landesgeschichte das unzensierte Protokoll einer oft grausamen Wirklichkeit entgegen. Das Dokumentarische aber ist nur der Fundus, das Ausgangsmaterial ihrer Komposition. Wissenschaftler rätseln, ob die 67-jährige Weißrussin damit ein neues Genre geboren habe - eine Literatur zwischen Realismus und Fiktion. Bis die Gattungsfrage dereinst geklärt sein wird, sollte man sich den Inhalten widmen. Auffällig aber bleibt, dass der chinesische Schriftsteller und Dissident Liao Yiwu ähnliche Verfahren praktiziert. Die literarische Dokumentation scheint zunehmend ein probates Mittel zu werden, um von Willkür und staatlichem Unrecht auf wirkungsvolle und beglaubigte Art zu erzählen.

Indem Alexijewitsch vieles in Frage stellt, was einst das Selbstbild ihrer Nation ausmachte, gelangt sie zu neuen Einsichten. Ihr Land sei selbstverständlich eine vom Krieg geprägte Gesellschaft, sagt sie. Man sei gewissermaßen vom Krieg imprägniert: "Wir haben all die Zeit über gekämpft oder uns auf den Krieg vorbereitet oder uns an den Krieg erinnert."

Die neue Literaturnobelpreisträgerin sieht sich nicht als "Superwoman", wie sie uns damals sagte. Als sie an der Front grausig zugerichtete Soldatenleichen sah, ist sie in Ohnmacht gefallen. Und als sie in einem afghanischen Krankenhaus den Kindern ohne Arme und Beine Spielzeug brachte, sagte ihr eine Schwester: "Das haben deine Soldaten gemacht."

Swetlana Alexijewitsch lebt wieder in Minsk. Wo ihr Telefon abgehört wird und ihre Bücher nicht verkauft werden dürfen. Sie lebt aber bei den Menschen und ihren Geschichten, die sie aufschreibt, weil sie dazu eine Verpflichtung spürt - vielleicht dem Leben gegenüber.

Bei unserer Verabschiedung bat Alexijewitsch den Dolmetscher, sie noch eben ins Kaufhaus nebenan zu begleiten - zum Kofferkauf für die Heimreise.

(los)
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