Überblick Die Schweiz als Zufluchtsort

Deutsche Künstler und Denker suchten und fanden über Jahrzehnte Exil in der Schweiz. Das Referendum gegen Masseneinwanderung scheint ein Tor der Liberalität zu schließen.

"37 bis 38 Jahre alt, mittler Statur, hat braunes Haar und trägt eine Brille" — so wird Richard Wagner im Mai 1849 per Steckbrief gesucht. Denn der Kapellmeister am königlichen Hof in Sachsen hat sich mit seinem Arbeitgeber angelegt. Wagner ist ganz offen gegen Monarchie. Bei den Dresdner Maiaufständen mischt er mit, verteilt Flugblätter, feuert die Aufständischen an, umgibt sich privat mit Revolutionären wie Michail Bakunin. Viele Revolutionäre werden festgenommen und zum Tode verurteilt.

Doch Wagner hat Glück. Sein Glück heißt Schweiz. Noch im selben Monat gelingt ihm die Flucht dorthin. Alpenglühen, Bergsee, taubedeckte Almwiesen — Klischees, ja, aber man kann sich leicht vorstellen, wie sie den für Dramatik sehr empfänglichen Komponisten beeinflussten, sein Idealbild einer Landschaft von Wotanschen Ausmaßen wiedergaben. Er ist überwältigt von den "nie gedachten Schönheiten dieses herrlichen Landes", von "Wohlstand" und "Freiheit".

Denn frei sind nicht nur die Gedanken. Die Schweiz hat, als kleines Land, eine große freiheitliche Tradition. Doch dieses Freiheitsempfinden hat offenbar Grenzen. Das hat die Volksabstimmung gegen Masseneinwanderung gezeigt. Die Mehrheit der Schweizer stimmte dafür, der Einwanderung Einhalt zu gebieten.

In der Nationallegende schießt Wilhelm Tell den Apfel vom Kopf seines eigenen Sohnes, um damit die Freiheit von den Unterdrückern zurückzuerlangen. Doch der Kampf gegen die aufgezwungene Fremdbestimmung ist noch nicht vorbei. Tell wird festgenommen und kann erst nach seiner Flucht das Volk der Bergbauern symbolisch erlösen, indem er den Unterdrücker tötet. Das gibt der Legende nach den Anstoß zum Aufbruch in die Freiheit. Die Aristokratie verbündet sich schließlich mit den Bauern zu einer Gemeinde freier Menschen. Die Willensnation ist geboren. Für den Revolutionär Wagner ist das imposante Vergangenheit. Obwohl er der Schweiz zunächst noch ihre Kunstsinnigkeit abspricht, wird er dort neun produktive Jahre erleben.

Auch ein Verehrer von Wagners Musik macht sich gut 80 Jahre später in die Schweiz auf. Aus einem Kuraufenthalt in Arosa im Frühjahr 1933 kehrt Thomas Mann nicht zurück. Im Deutschen Reich wird er als geistiger Landesverräter gebrandmarkt — die Schweiz wird auch sein Exil. Die Familie lässt sich in Küsnacht nieder. Ein Haus, ein Arbeitszimmer, bürgerliches Umfeld — die Münchner Gewohnheiten muss Mann nicht aufgeben. In der Schweiz sucht der Autor fortan eine Art gutes Deutschland, eine "Berichtigung und Wiederherstellung". Die neue Heimat soll all das bieten, was er im Deutschland der Nationalsozialisten verloren glaubt; ein "Gegendeutschland" soll sie sein.

Mit ihren vier Sprachen und unterschiedlichen Konfessionen wirkt die Schweiz als Exilland auf viele offen und wegen der geografischen Lage und der gemeinsamen Sprache der deutschen Kultur nahe. Tatsächlich ist die Sache komplizierter. Hugo Loetscher hat es so ausgedrückt: "Ein Schweizer Schriftsteller lebt in einem Land, das nicht eine Kultur ist, und lebt nicht in einer Kultur, die eine Nation ist." Verwirrend. Einerseits will sich der Schweizer an nichts festmachen lassen, andererseits ist er stolz auf die Sonderstellung: das eigene Geld, die direkte Demokratie, die Neutralität. Einerseits Willensnation, andererseits Bewacher der Monarchie. Die Schweizer Garde in Frankreich schützte die absolutistischen Herrscher im 17. und 18. Jahrhundert, bis das französische Volk die Revolution anzettelt. Hunderte Gardisten sterben beim Sturm auf das Schloss des in Saus und Braus lebenden Ludwig XVI. "Wir sind Niemandskinder. Das ist weder eine Tugend noch ein Defizit, sondern das öffnet eine Perspektive auf die Welt", so beschreibt der Essayist Etienne Barilier die Schweizer Identität. Mit Händen ist sie nicht zu greifen. Es ist wohl auch diese Offenheit, Unvoreingenommenheit, die Exilanten seit langem in die Schweiz zieht. Doch nicht alle wurden von den Schweizer Behörden so hofiert wie Thomas Mann.

Im krassen Gegensatz zu der freiheitlichen Anmutung steht die Flüchtlingspolitik des Landes zur Zeit des Dritten Reichs und Zweiten Weltkriegs. Schon seit Anfang des 20. Jahrhunderts schwelt eine Angst vor "Überfremdung" bei den Eidgenossen. In den 1930er und 1940er Jahren sind in Europa Hunderttausende auf der Flucht, viele drängen in die neutrale Schweiz aus Angst um ihr Leben. Die kleine Schweiz fühlt sich überfordert und bedroht — und macht die Schotten dicht. "Das Boot ist voll", ein Satz des damaligen Bundesrates Eduard von Steiger aus dem Jahr 1942 ist bis heute Synonym einer restriktiven Flüchtlingspolitik. Mancher fühlte sich bei der Volksabstimmung gegen Masseneinwanderung an diesen Satz erinnert.

Im Zweiten Weltkrieg wurde es vor allem für ethnisch Verfolgte kaum möglich, in der Schweiz den Flüchtlingsstatus zu erlangen. Schweizer Asylrecht war politischen Flüchtlingen vorbehalten. Eine Verfolgung aus "Rassegründen" reichte als Asylgrund nicht aus. Auch dann nicht, als die Politik bereits von den Vernichtungslagern der Nationalsozialisten wusste. Erst 1944 wurde diese Regelung aufgehoben, und jüdische Flüchtlinge konnten den Status des politischen Flüchtlings bekommen. "Die Schweiz ist ein Land, das berühmt dafür ist, dass sie frei sein können. Sie müssen aber Tourist sein", schreibt Bertolt Brecht bitter in seinen "Flüchtlingsgesprächen". Er war unerwünscht in der Schweiz.

Auch die Dichterin Else Lasker-Schüler fühlt sich entwurzelt. Im April 1933 emigriert sie in die Schweiz, nachdem sie von SA-Männern auf offener Straße geschlagen worden war. In ihrem Gedicht "Die Verscheuchte" bringt sie ihr Gefühl des Fremdseins zum Ausdruck: "Wie lange war kein Herz zu meinem mild / Die Welt erkaltete, der Mensch verblich."

Eine besondere Geschichte verbindet den Künstler Paul Klee mit der Schweizerischen Eidgenossenschaft. Er findet sein Exil 1933 in der Heimat. In Bern wuchs Klee (Vater Deutscher, Mutter Schweizerin) auf und ging zur Schule, in einem kleinen Ort in der Nähe wurde er geboren. Vor seiner Flucht ist er Kunstprofessor an der Düsseldorfer Akademie. Als er 1933 von den Nationalsozialisten wegen seiner als entartet geltenden Kunst entlassen wird, zieht es ihn zurück in die Schweiz. Er stirbt 1940, bevor von der Stadt Bern über sein Einbürgerungsgesuch entschieden wird.

(RP)
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