„Heerlager der Heiligen“ Apokalypse im Herrenzimmer

RECKLINGHAUSEN · Zum Auftakt der Ruhrfestspiele gab es die Uraufführung eines Textes, auf den die Neue Rechte sich bezieht.

 Gewaltbereite Jagdgesellschaft in der Festung ihres Denkens: Szene aus „Das Heerlager der Heiligen“.

Gewaltbereite Jagdgesellschaft in der Festung ihres Denkens: Szene aus „Das Heerlager der Heiligen“.

Foto: schittko/Robert_Schittko_Copyright

So sieht es aus, wenn ein Festival seine Besucher umarmt: Zum Auftakt der Ruhrfestspiele beschwor der neue Intendant, Olaf Kröck, das Theater als Ort der Gemeinschaft. So gab er den ersten Abend im Festspielhaus in die Hände des aus Beirut stammenden Choreografen Omar Rajeh. Der inszenierte ein Fest der Gastfreundschaft auf der großen Bühne: Während eine Frau für alle Zuschauer kochte, gab Rajeh mit befreundeten Choreografen kulturellen Identitäten Ausdruck im Tanz. Das Publikum wurde hineingezogen in das Ritual, wurde eingeladen, die Distanz zu den Künstlern aufzugeben und Teil der Feier zu werden. Dazu lud Kröck die Autorin und Buchgestalterin Judith Schalansky ein, erstmals einen Eröffnungsvortrag zu halten. Und im Zentrum Recklinghausens ließ der Intendant einen Laufsteg über den Marktplatz legen: Trotz Regens zeigten 100 Bürger auf dem gelben Teppich ihren Mitbürgern, wer sie sind. Und verkörperten damit das Shakespeare-Zitat: „Was ist die Stadt anderes als die Menschen, die in ihr leben?“

Theater feiert reale Begegnung und besetzt den öffentlichen Raum. Doch wie tief reichen solche inszenierten Gemeinschaftserlebnisse wirklich? Rumort es nicht längst im Inneren einer Gesellschaft, in der Arm und Reich auseinanderdriften und kulturelle Unterschiede Abwehr produzieren? Geschickt stellen die Ruhrfestspiele auch diese Fragen selbst – mit Hermann Schmidt-Rahmers Inszenierung des Romans „Das Heerlager der Heiligen“. Darin entwarf der Franzose Jean Raspail 1973 ein Zukunfts-Szenario, das in Teilen die Gegenwart trifft. Bei Raspail treibt eine Hungersnot Millionen von Indern über die Meere bis an die Küste Südfrankreichs. Die Flüchtlinge sind unbewaffnet, doch gerade ihre Wehrlosigkeit ist in Raspails Augen ihre Waffe. Denn im dekadenten Europa, das er beschreibt, will „der Wolf nicht mehr Wolf“ sein. Die Menschen wollen ihren Wohlstand nicht teilen, aber schießen wollen sie auch nicht. So bleibt ihnen nur die Flucht in den Norden, während in Frankreich der eigentliche Krieg ausbricht, der zwischen Nationalisten und den Befürwortern der offenen Gesellschaft, ein Krieg zwischen den Bürgern.

Raspail denkt allein in den Kategorien von Rasse und Nation. Er beschreibt einen Kampf der Kulturen, der mit Gewalt zu führen ist, und beschreibt ein durch Mitleid geschwächtes Europa, das zu keinem Abwehrkampf mehr fähig ist. So beschwor er mit großer Wortgewalt schon vor mehr als 40 Jahren den rassistischen Mythos vom „Bevölkerungsaustausch“. Sein Roman ist eine apokalyptisch gewendete Abschottungsfantasie. Das macht ihn zu einem Lieblingstext der Neuen Rechten. Eine Übersetzung ist im Verlag des rechten Aktivisten Götz Kubitschek erschienen.

Einen solchen Text auf die Bühne zu bringen, zeugt vom Vertrauen in die Reflexionsfähigkeit der Zuschauer. Verlangt allerdings vom Regisseur, darzustellen, ohne sich mit dem Dargestellten gemein zu machen. Hermann Schmidt-Rahmer setzt dabei weitgehend auf Bilder. Er siedelt die Handlung in einem trutzigen Herrenzimmer mit Kamin und schweren Eichentüren an. Bei einem feudalen Essen lassen ein Alter Ego des Autors und seine Gäste ihren Ansichten freien Lauf. Die Apokalypse steht bevor, nun können die Verteidiger der Nation endlich ihre Flinten laden und offen reden über die Verweichlichung des schuldbewussten Luxus-Westens.

Schmidt-Rahmer bricht die rassistisch-nationalistischen Thesen, indem er eine gewaltbereite Jagdgesellschaft in der Festung ihres Denkens zeigt und sie als geisterhafte Dandys überzeichnet. Doch bleibt es weitgehend dem Zuschauer überlassen, auf die teils krassen Überlegungen, die da auf der Bühne ausgesprochen werden, eigene Erwiderungen zu finden. Derweil werden ihm in teils platten Bildern die Fantasien der Abschottungsfanatiker aus dem Heerlager dargeboten. Etwa, wenn der Bühnenboden mit Bergen von Mini-Babypuppen aus Plastik geflutet wird.

Schmidt-Rahmer sucht bei Raspail nach den Ideen und Mythen, aus denen sich die Ideologie der alten und neuen Rechten speist. Zugleich versucht er herauszustellen, was die Gegenwart tatsächlich trifft: Etwa, wenn Raspail über jene höhnt, die im Angesicht von Überbevölkerung und Massenverelendung, hier und da ein gutes Werk tun, ihren Lebensstandard jedoch nicht in Frage stellen. Ihr Mitleid ist eben doch nicht universal, sondern endet, wo die Eigeninteressen beginnen. Raspail spitzt das moralische Dilemma angesichts der Größe der weltweiten Probleme zu auf die Alternative: teilen oder töten – und entscheidet sich für Gewalt. Da muss Schmidt-Rahmer im Hintergrund seiner Bühne nur das rötlich gefärbte Mittelmeer wogen lassen, um daran zu erinnern, dass auch Europa ja gar nicht wehrlos ist, wie Raspail fantasiert, sondern längst eine Wahl getroffen hat. Die Abschottung ist im Gange, sie kostet Menschen das Leben – und die Bekämpfung der Fluchtursachen ist zur Hohlformel verkommen.

Zwischen die Pole „Poesie und Politik“ hat der neue Leiter der Ruhrfestspiele sein erstes Programm gestellt. Mit dem Auftakt ist er diesem Anspruch gerecht geworden. Das Festival dauert bis Anfang Juni.

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