Düsseldorf Die Philosophie entdeckt den Alltag

Düsseldorf · Lange Zeit galt die "Königin der Wissenschaften" als unzugänglich. Jetzt zeigt sie sich zunehmend von einer praktischen Seite - als Vermittlerin von Lebenshilfe. Ratgeber, Radiosendungen und die "phil.Cologne" legen davon Zeugnis ab.

Wer an Philosophie denkt, der denkt meist zuerst an das Jonglieren mit Begriffen und Kategorien, an das "Ding an sich" oder an das "Sein des Seienden" - und gibt zu verstehen, dass das nicht seine Welt ist. Lange Zeit haftete der Philosophie der Ruf an, dass sie sich an eine elitäre Minderheit wende, die bereit ist, sich auf ihr Vokabular einzulassen. Und dass sie zwar Erkenntnisse, aber keinen Nutzen stifte.

Daran hat sich im Lauf der Jahre manches geändert. Statt um ewige und womöglich ewig unbeantwortbare Fragen kümmert sich die Philosophie zusehends um praktische Angelegenheiten. Eine Fülle von Ratgeber-Büchern leitet die Leser dazu an, im Leben ihren Platz, vielleicht sogar das große Glück zu finden. Die Sendereihe "Das philosophische Radio" auf WDR 5 befasst sich unter anderem mit Fragen nach unserem Wertesystem und dessen Anwendung, und vom 19. bis zum 25. Mai wird es die zweite "phil.Cologne" geben, eine philosophische Entsprechung zur lit.Cologne.

Schon allein ein Blick in deren Programm zeigt, wie nah die Philosophie inzwischen den Menschen gerückt ist: "Wie viele Urlaubsflüge stehen mir zu?", "Ist der Klimawandel ein Gerechtigkeitsproblem?", "Kommt es auf mich an?", "Was ist das gute Leben?" und "Gibt es ein gutes Vergessen?".

Früher waren für solche Fragen Soziologie, Psychologie und Religion zuständig. Heute mischt sich immer mehr die Philosophie ein - mit gutem Grund. Denn eine ihrer Spezialitäten ist es, Begriffe zu klären und damit erst die Grundlage einer ernsthaften Diskussion zu schaffen.

In Köln wird es sogar einen Philosophie-Slam geben: "Schlag den Platon!". Schon jetzt wird man sagen können, dass Platon nicht zu schlagen ist, ebenso wenig wie sein Lehrer Sokrates. Er hat der Welt die Technik der Maieutik geschenkt, der "Hebammenkunst": ein didaktisches Verfahren. Dabei verhilft man einer Person zu einer Erkenntnis, indem man sie durch geeignete Fragen den betreffenden Sachverhalt aus sich selbst herausholen lässt. In Platons Dialog "Thaitetos" vergleicht Sokrates seine Didaktik mit der Berufstätigkeit seiner Mutter, einer Hebamme. Er helfe den Seelen bei der Geburt ihrer Einsichten wie die Hebamme den Frauen bei der Geburt ihrer Kinder.

Die Technik des zielführenden Fragens zeitigt nach wie vor Erfolge, doch ist sie nur ein Hilfsmittel. Die eigentliche Kunst der lebensnahen Philosophen von heute - ob sie Sloterdijk oder Safranski heißen oder aus der ausgedehnten zweiten Reihe der namentlich kaum Bekannten stammen - besteht darin, die Gedanken der großen Philosophen von Kant bis Schopenhauer als Steinbruch zu nutzen, sie neu zu kombinieren und für die Gegenwart nutzbar zu machen.

Früher löste man Probleme, indem man sich einer bestimmten Methode anvertraute. Ethik zum Beispiel zählte zu den Aufgaben der (christlichen) Religion. Die Denker von heute scheuen sich nicht, fernöstliches mit abendländischem Gedankengut zu kreuzen, um herauszufinden, was gut und was schlecht ist.

Ethik hat sich ohnehin zum meistgefragten Gebiet der neuen Alltagsphilosophie gemausert. Darf ich Fleisch essen - und wenn ja, wie viel pro Tag? Sollte ich statt mit dem Auto lieber mit öffentlichen Verkehrsmitteln zur Arbeit fahren? Kann es hierzulande überhaupt Glück geben angesichts der Tatsache, dass 842 Millionen Menschen auf der Erde nicht genug zu essen haben?

Solche Fragen erreichen rasch eine Tiefe, die man anfangs nicht erwartet hätte. Denn sie führen unmittelbar zu der übergeordneten Frage, worauf sich Ethik und Moral gründen. Wer nicht an ein Jüngstes Gericht glaubt - kann der nicht tun und lassen, was er will?

Dostojewski hat geschrieben: "Wenn es keinen Gott gibt, ist alles erlaubt." Der Hamburger Philosoph Herbert Schnädelbach, der sich selbst als "frommen Atheisten" bezeichnet, hält dagegen: Um moralisch zu handeln, brauche man kein höheres Wesen. Und zu Dostojewskis Satz merkte er im vorigen Jahr auf einem Berliner Symposium an: "Ein Kollege hat angeregt, diesen Satz auf die Liste der dümmsten philosophischen Sprüche zu setzen. Denn das Dumme ist: Selbst wenn es Gott nicht geben sollte, darf ich nicht bei Rot über die Ampel fahren, Steuern hinterziehen oder meine Frau schlagen." Alle Menschen, so fuhr Schnädelbach fort, lebten in einem Sitten-, Moral- und Wertegefüge, das klarmache, was erlaubt sei und was nicht. Es reiche die Orientierung an der Vernunft und dem eigenen Gewissen. Und es gebe Gesetze, an die sich jeder Bürger zu halten habe. So sagt der Philosoph auch zur Menschenwürde: "Es spielt im Grundgesetz keine Rolle, aus welchen Gründen wir die Menschenwürde verteidigen. Das kann man religiös machen, das kann man mit Kant machen, das kann man naturalistisch machen. Entscheidend ist hier der Rechtsgehorsam."

So geht es heute, wenn in der Öffentlichkeit von Philosophie die Rede ist, nicht mehr so sehr um Hegels "Weltgeist" oder um Leibniz' Monaden, sondern um rote Ampeln und hinterzogene Steuern. Und anhand dieser alltäglichen Beispiele doch immer noch um die großen, ewig strittigen Fragen der Philosophie.

(RP)
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