München Die Mensch-Maschine lebt

München · Die legendäre Band Kraftwerk führte in München erstmals ihre neue 3D-Show auf. Die drei Auftritte an zwei Abenden eröffneten eine Ausstellung von Video-Projektionen der Düsseldorfer im Museum Lenbachhaus. Nach den Konzerten wusste man: Die Musik ist größer als ihre Inszenierung.

Es sind vor allem Männer gekommen, und die meisten gucken ziemlich ernst. Wenn sie von Frauen begleitet werden, dann grinsen diese Frauen spöttisch: Ach, die Jungs und ihre Liebhabereien! Man beobachtet so etwas häufig in Spielwarenläden, wenn erwachsene Kerle sehnsüchtig der Modelleisenbahn nachblicken, die sie einst besaßen. Hier in der Alten Kongresshalle München geht es allerdings nicht um Kinderkram, sondern um den ersten von drei Auftritten der seltsamsten und einflussreichsten Band Deutschlands an zwei Abenden: Gleich präsentiert Kraftwerk aus Düsseldorf ein neues 3D-Programm.

Der Saal, dessen Decke von weißen Säulen getragen wird, ist holzvertäfelt, die Bühne gerundet, und man kann sich gut vorstellen, hier einen Film von Fellini anzusehen. Ein Mausoleum des alten Westdeutschlands ist das, aber dann geht das Licht aus, und man ist zurück in der Zukunft. Ein Automat spricht die Worte "Damen und Herren, heute Abend: die Mensch-Maschine", es ist die Stimme der Energie. Oben stehen die vier Kraftwerker an Pulten, sie programmieren das Stück "Wir sind die Roboter", und auf der mächtigen Leinwand im Hintergrund strecken die berühmten Roboter-Puppen die Arme aus und greifen ins Publikum. Es ist Geschrei in der Halle, und wer sich umdreht, wird mit einem skurrilen Anblick beschenkt: rund 1300 Fans mit weißen 3D-Brillen. Sonnenfinsternis am Rand der Theresienwiese.

Dieser Abend ist eine Performance, eine Séance, und beschworen wird der Geist der Innovation. Es nervt ja inzwischen ein bisschen, wenn wieder mal die Rede davon ist, was im Kling-Klang-Studio nahe dem Düsseldorfer Hauptbahnhof seit 1970 alles erfunden wurde. Ralf Hütter und Florian Schneider, die beiden Gründer dieses Ingenieurskollektivs, das den Übergang von elektrischer zu elektronischer Musik besorgte, schufen die Blaupause für Stile und Genres wie Techno, House, Rap, Minimal, Synthie-Pop, und obwohl sie seit 1986 kein wirklich neues Material mehr veröffentlichten, steigt die Zahl der Verehrer. Die Alben "Trans Europa Express" (1977) und "Electric Café" (1986) gelten heute als Monolithe der elektronischen Tanzmusik.

In München zeigt sich: Es ist alles wahr, was die Leute sagen, man kann Kraftwerk nicht überschätzen. Florian Schneider stieg vor zwei Jahren aus, nun steht Hütter links auf der Bühne, neben ihm drei Angestellte in Techniker-Anzügen. Hütters Hauptaufgabe ist es, den Mythos vor Beschädigungen zu schützen, er muss nicht mehr originell sein, sondern verantwortungsvoll handeln wie ein Verwaltungsdirektor. Indem nachfolgende Künstler das Werk von Kraftwerk in ihren Produktionen spiegeln, werfen sie stets aufs Neue ein Licht auf das Schaffen der Lakoniker, und die Quelle all dessen leuchtet und glitzert nach wie vor sehr einnehmend.

Die alten Stücke werden mit frischen Sounds angereichert. Der Jingle zur Expo 2000 ist in der brutalen und mit messerscharfen Beats versehenen Version des Detroiter Techno-Projekts Underground Resistance zu hören, und das beschleunigte "Radioaktivität" kann man genauso in einem Club am Samstagabend auflegen – jeder würde dazu tanzen wollen. Dass das nicht eben erst komponiert wurde, deuten allein staksige Zeilen an wie "Interpol und FBI, Deutsche Bank und BKA haben unsere Daten da" oder "Am Heimcomputer sitz ich hier, programmier die Zukunft mir". Die 3D-Projektionen sind ebenfalls eher putzig. Kraftwerk kommen arg spät mit dieser bestenfalls retrofuturistischen Neuerung, also bemüht sich die Band gar nicht erst um Progressivität, sondern schäkert mit nostalgischem Charme. Naiv mutet das Rennen zwischen VW und Mercedes bei "Autobahn" an, und Rheinländer werden gemütsduselig, wenn die Schriftzüge "Park Hotel", "Optik Ziem", und "4711" zu "Neonlicht" vorüberhuschen. Die Kälte, die im Werk Kraftwerks immer größer wurde, ist äußerlich. Im Kern glimmt Wehmut. Es gibt durchaus folkloristische Momente, irgendwie ist das auch ein Heimatabend.

Die 3D-Projektionen sind von heute an im Münchner Lenbachhaus zu erleben, Kraftwerk kommt ins Museum, zu sehen ist der Quellcode des Fortschritts. Als Kraftwerks Leistung gilt unter anderem die Erfindung der Band als Image. Jeder ist ersetzbar, lautet der Grundsatz. Und gerade das Fehlen von Emotion gibt dem Gemisch aus süßlichen Flächen und synthetischen Effekten romantisches Pathos. So stehen sie da wie die grauen Herren aus "Momo", die Zeitschleife als natürlicher Lebensraum. Die Musik ist längst größer als ihre Inszenierung.

Wer fordert, die sollen doch mit einer neuen Platte beweisen, dass sie trotz Museumsreife am Puls der Zeit sind, hat das Prinzip nicht begriffen. Kraftwerk synthetisierte die DNA, die noch der Musik des Jahres 2011 zugrunde liegt. Elektronische Sounds von heute sind also per se von Kraftwerk. So ist das eigentliche Ereignis der Live-Performances das Unvorhergesehene, der Ausbruch aus dem Kanon des Futurismus, in dem Interviews, Fototermine, Publikumsansprache und Zugaben nicht vorgesehen sind.

Am Ende des Münchner Auftritts wird zum Klang von "Musique non stop" ein Lichtstrahl auf jedes Bandmitglied gerichtet. Nacheinander verlassen sie die Bühne. Als nur mehr Ralf Hütter dort steht, erscheint das Augenpaar Florian Schneiders überlebensgroß auf der Leinwand. "Es wird immer weitergehen, Musik als Träger von Ideen", singt Hütter. Dann nimmt er die Hände vom Rechner und sagt: "Besten Dank". Jubel, heftiger Applaus. Die Mensch-Maschine lebt.

(RP)
Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort