Literatur Die Manns - Bruderzwist im Krieg
Thomas Mann begrüßte den Ersten Weltkrieg, Heinrich Mann hoffte auf eine baldige Republikgründung. Zwei Brüder im geistigen Stellungskrieg.
Den Literaturnobelpreis wird er erst 15 Jahre später bekommen. Aber die "Buddenbrooks" sind schon erschienen, sein Roman über den Verfall einer Familie; auch die Novellen "Tonio Kröger" und vor allem "Der Tod in Venedig". Zu dieser Zeit arbeitet er auch schon am "Zauberberg", an jenem epischen wie epochalen Großwerk. Es ist der Spätsommer 1914. Das deutsche Heer hat bei Tannenberg einen Sieg gegen die russischen Truppen errungen, doch im Westen ist der deutsche Vormarsch an der Marne steckengeblieben. Der Stellungskrieg beginnt, auch wenn noch niemand weiß oder ahnt, was dies wirklich bedeuten wird. In diesen Tagen sitzt Thomas Mann, 39 Jahre alt, in der imposanten Familien-Villa an der Poschingerstraße. Eine exzellente Adresse in München.
Auch Thomas Mann denkt an das tausendfache Sterben auf den Feldern der sogenannten Ehre und den Krieg fern seines Schreibtisches. Das Ergebnis sind seine "Gedanken im Kriege", ein Essay, niedergeschrieben im August und September 1914. Wer diesen Text 100 Jahre später wiederliest, wird blass und vielleicht starr vor Entsetzen, zu welchen Sätze der vielleicht bedeutendste deutsche Schriftsteller des 20. Jahrhunderts fähig gewesen ist. Der Text ist in seiner gesellschaftlichen Tragweite historisch und in seiner biografischen Wirkung tragisch: "Gedanken im Kriege" wird die Brüder entzweien, wird eine geistige Frontlinie zwischen Thomas und Heinrich Mann ziehen, die fortan — mit literarischen Mitteln — im Stellungskrieg verharren.
Worum geht es Thomas Mann überhaupt, zumal er nicht unbedingt jenen Künstlern und Intellektuellen zuzurechnen ist, die in spontaner und blinder Euphorie sich der Kriegsbegeisterung hingeben? Thomas Mann versucht das Wesen des Krieges und die Rolle Deutschlands geistig zu durchdringen. Das wiederum macht den Text gefährlicher als viele gleichermaßen glühende wie törichte Aufrufe aus diesen Tagen. Tatsächlich sind seine "Gedanken im Kriege" der Versuch, das Morden und die Gewalt zu erklären und verständlich zu machen und damit gar irgendein deutsches Wesen zu ergründen.
Und das mit aller, in diesem Fall furchterregender Wortgewalt: "Deutschlands ganze Tugend und Schönheit — wir sahen es jetzt — entfaltet sich erst im Kriege. Der Friede steht ihm nicht immer gut zu Gesicht — man konnte im Frieden zuweilen vergessen, wie schön es ist." Dieses Land, davon ist Thomas Mann überzeugt, wird aus diesem Krieg — den zu diesem Zeitpunkt noch niemand Weltkrieg zu nennen wagt — "freier und besser hervorgehen, als es war".
Man könnte diesem Essay durchaus ein faschistoides Grunddenken unterstellen. Doch hätte man den Schriftsteller und sein Werk in diese Schublade gesteckt, stünde jede weitere Beschäftigung mit ihm gleich unter Vorbehalt. Dabei ist es lohnend, Thomas Mann selbst in diesem Text beim Denken zuzuschauen. Denn die Überzeugung, der Krieg sei für Deutschland wesentlich, entspringt seinem besonderen Kulturverständnis. So unterscheidet Mann zwischen Zivilisation und Kultur; für ihn sind sie sogar Gegensätze und können gleichgesetzt werden mit Geist und Natur. Thomas Mann meint es abwertend, wenn er Politik als eine Sache der Vernunft und der Demokratie beschreibt — alles Produkte der Zivilisation. Dagegen steht das Natürliche und die Sinnlichkeit als ein mythisches Wesen; es geht ihm um eine Kultur der Seele. Von diesem Verständnis leitet Thomas Mann alles ab und kommt dann zu haarsträubenden Erkenntnissen wie diesen: "Mit großem Recht hat man die Kunst einen Krieg genannt, einen aufreibenden Kampf: schöner noch steht ihr das deutsche Wort, das Wort ,Dienst' zu Gesicht, und zwar ist der Dienst des Künstlers dem des Soldaten viel näher verwandt als dem des Priesters."
Bis dahin kann man dies wie den Versuch einer geistesgeschichtlichen Deutung seiner Zeit lesen. Doch dabei bleibt es nicht. Thomas Mann versucht für den Gegensatz von Zivilisation und Kultur, von Vernunft und Seele zwei Zeugen zu finden, Stellvertreter und Verkörperungen gewissermaßen. Und er entdeckt sie schließlich in den Philosophen Voltaire und in Friedrich dem Großen.
Was Voltaire für den Schriftsteller ist? Vernunft und Geist, "trockene Heiligkeit" und "bürgerliche Sittigung". Der Preußenkönig hingegen ist Dämon und Genie, "umwölktes Schicksal" und "heroische Pflicht". Auf welcher Seite Thomas Mann sich und die Deutschen sieht, ist unzweifelhaft: Deutschland ist heute Friedrich der Große, schreibt er. Und: "Es ist sein Kampf, den wir zu Ende führen, den wir noch einmal zu führen haben." Kurzum, Voltaire und der König, das sei "der große Zivilist und der große Soldat seit jeher und für alle Zeiten". Thomas Mann, durchaus mit einem selbstgewissen Standesdenken ausgestattet, wird sich nicht in der Rolle Friedrichs des Großen gesehen haben. Dennoch beschreibt der Gegensatz der historischen Berühmtheiten auch das gegensätzliche Kulturverständnis beider Brüder. Der Essay aus dem Spätsommer 1914 hat also einen konkreten Adressaten; er heißt Heinrich Mann. Der hält sich zu Kriegsbeginn in dem von ihm geliebten Frankreich auf, genauer in Nizza. Doch das Traumland ist urplötzlich zum Feindesland geworden, und Heinrich Mann muss befürchten, als Ausländer interniert zu werden. Zudem gibt es Probleme mit seinem Roman "Der Untertan", der, wie es im Vorwort fast wie in einer Präambel heißt, erst "im Juli 1914 vollendet" wurde. Geplant ist der Fortsetzungsabdruck des Buches in der illustrierten Wochenschrift "Zeit im Bild". Das aber wird vom Verleger gestoppt, da dieser in Zeiten des Krieges das Einschreiten der Zensurbehörde fürchtet. Zu scharf und bissig wird in dem Buch das deutsche Kaiserreich angegangen.
So also sieht die missliche Lage von Heinrich Mann aus. Seine Hoffnung ist, dass Deutschland aus dem Krieg als Republik hervorgehen wird. Kurz vor Ende des Krieges wird ihm Thomas Mann darum vorwerfen, dass Heinrich, der Frankreich-Freund, so etwas wie Triumph angesichts der bevorstehenden deutschen Niederlage empfinden wird.
Heinrich Mann nimmt den Stellungskrieg an und antwortet seinem Bruder ebenfalls mit Aufsätzen. Einer seiner Gewährsmänner wird Emile Zola, mit dem er in einem Essay 1915 die Dritte Republik Frankreichs als politisch rühmlichen Gegenentwurf zum kaiserlichen Deutschland sieht. In diesem Stellungskrieg ist keine Diplomatie mehr möglich. Thomas Mann verschanzt sich lieber noch tiefer, lehnt alles Republikanische brüsk ab und bezeichnet allen Humanismus als Unfug. Seinen Bruder glaubt er längst verloren zu haben an das Land der Zivilisation. Wer so denke wie Heinrich, sei beinahe schon selbst ein Franzose. Thomas Mann wird — auf dem Höhepunkt der Kränkungen — den Bruder noch einen "Zivilisationsliteraten" nennen, in den "Betrachtungen eines Unpolitischen" von 1918. Namentlich wird der Bruder zwar nicht genannt, doch wie bei allen starren Frontlinien von Stellungskriegen ist der Feind stets leicht zu erkennen.
Thomas Mann wird mit der Kriegsniederlage seinen Frieden machen, er wird sich mit der Republik arrangieren und sich zu ihr bekennen. Er wird damit gleichsam eine Brücke zum Bruder schlagen. Für ihn ist das ein mächtiger Kraftakt. Und dass dieser ihm nicht gerade leicht fällt, wird ablesbar in Sätzen wie diesen: "Ich widerrufe nichts. Ich nehme nichts Wesentliches zurück. Ich gab meine Wahrheiten und gebe sie heute." Das schreibt er 1922, und Anlass ist seine Festrede zum 60. Geburtstag von Gerhart Hauptmann. Kaum zu glauben, dass mit dieser Rede Thomas Mann seinen Wandel beschreibt. Wie unsicher er sich dabei selber ist, wird in den fast peinlichen Kommentaren ablesbar, die er in den Text hineingeschrieben hat und mit denen er in Klammern die Reaktionen des Publikums wiederzugeben glaubt — "(Scharren im Hintergrund)" oder "(Verbreitete Unruhe)".
Die Mächte sind fort, sagt er nun; "wir sind der Staat", behauptet der Konservative. Und fast empört entgegnet er: "Die Republik — als ob das nicht immer noch Deutschland wäre!" Mit jedem Satz spürt man, wie schwer es ist, aus einem Graben herauszukommen. Die Soldaten wagten es vier Jahre zuvor. Nun ist es Thomas Mann, der am Ende der Rede dem Bruder die Hand reicht, indem er mit großer Suada alle Gegensätze zu versöhnen sucht und seine noch "ungelenke Zunge zu dem Rufe schmeidigt: Es lebe die Republik!"