Literatur Auch Hölderlin war im Homeoffice

Die Literaturhandlung Müller und Böhm bekommt Trost: mit Texten und Zeichnungen befreundeter Autoren. Jetzt schmücken die literarischen Perlen das Schaufenster an der Bolkerstraße.

 Rudolf Müller schmückt das Fenster seiner Literaturhandlung mit den Texten der Schriftsteller.

Rudolf Müller schmückt das Fenster seiner Literaturhandlung mit den Texten der Schriftsteller.

Foto: Heine

Jeder wird verstehen, dass Spaziergänger der Bolkerstraße gerade sauertöpfisch dreinblicken. Ein Bierchen mit Freunden ist nicht drin, die Partyschuppen sind dicht, Junggesellenabschiede verboten, sogar die Neanderkirche ist geschlossen. So viel Leben ist da sonst. Jetzt aber ziehen die Menschen seufzend an den Brauereien und Restaurants vorbei und vermissen den Überschwang, denn etwas weniger Erdenschwere wäre zurzeit ganz schön.

Sorgloser fühlt sich, wer die drei Stufen zur Heine-Buchhandlung hinaufsteigt. Das Literaturhaus an der Bolkerstraße 53 befindet sich in einem Dauerschwebezustand. Es handelt mit Gedichten und Romanen, lädt Schriftsteller ein, die sich vor den Besuchern in unterhaltsame Erzähler verwandeln, und hin und wieder gibt es auch Musik. An der Bolkerstraße 53 kann man sich in Träumereien und Phantasmen versteigen oder menschliche Dramen beweinen, ohne auch nur einen einzigen Schluck Alkohol getrunken zu haben.

Natürlich hat auch diese Literaturhandlung wegen der Corona-Krise geschlossen. Aber sie weiß ihr Schaufenster zu nutzen und ist damit im Vorteil gegenüber den Gaststätten, die ja schlecht Rindertatar mit Zwiebeln ausstellen können, damit sich ihre Gäste vor lauter Vorfreude auf die Zeit nach der Pandemie die Nase plattdrücken.

Katharina Hacker wiederum ist gewissermaßen dem Einfallsreichtum verpflichtet, da sie für ihre schriftstellerische Tätigkeit unter anderem mit dem Deutschen Buchpreis und dem Düsseldorfer Literaturpreis ausgezeichnet wurde. Sie meldete sich Anfang April bei den Buchhändlern Selinde Böhm und Rudolf Müller, um sich zu erkundigen, ob diese gesund und guten Mutes seien. Noch während des Schreibens kam ihr dann die Idee von der Schaufensterliteratur: Die, die schon im Literaturhaus bei Müller und Böhm gelesen hätten oder noch lesen würden, könnten doch ein paar Worte schicken. „Ihr klebt das ans Schaufenster und dekoriert damit, gewissermaßen.“

Der schöne Vorschlag machte rasch die Runde, und es kommen seither täglich neue Texte oder werden angekündigt – wie am Mittwoch von Büchner-Preisträger Lukas Bärfuss. Auch Zeichnungen sind darunter und manchmal beides. Aris Fioretos schreibt: „Wenn diese elenden Tage mal Erinnerung geworden sind, fliegende Teppiche für alle!“ Oder Rüdiger Safranski: „Aber wir halten durch. Schließlich hat Hölderlin in seinem Tübinger Turm 36 Jahre home-office durchgehalten!“

Und noch mal Katharina Hacker: „Ob sich Eure schmalen Hunde in Solidarität mit den einsamen Büchern in die Regale gequetscht haben?“ Gemeint sind die beiden Hunde der Buchhändler. Mutmachertextlein und ausgewachsene Traktate kleben von innen an der Scheibe, Monika Rincks fein gezeichnete Wolken, die über Bücher hinwegfliegen und eine beklommene Bilanz des Lyrikers Durs Grünbein: „Einzelne Passanten, asiatisch maskiert, ziehen in Zeitlupe um die Wohnblocks wie Mimen auf einer leeren antiken Bühne.“

In Italien, wo bisher nur Supermärkte und Apotheken ihren Betrieb aufrecht erhalten, dürfen inmitten der Ausgangssperre auch die Buchläden wieder öffnen. Damit sei anerkannt, dass das Buch ein Lebensmittel sei, twitterte der italienische Kulturminister Dario Franceschini.

Rudolf Müller und Selinde Böhm finden das natürlich richtig und hoffen auf Einsicht der Politiker auch hierzulande. Bis dahin kleben sie weiter Appetithappen ins Schaufenster.

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