Exzellentes Orchester Die Bremer Zukunftsmusikanten

Bremen · Die Kammerphilharmonie Bremen ist derzeit das spannendste Orchester im Land. Ihre CDs sind großartig, ihre Konzerte wagemutig.

 Die Deutsche Kammerphilharmonie Bremen hat soeben eine faszinierende Brahms-Aufnahme herausgebracht.

Die Deutsche Kammerphilharmonie Bremen hat soeben eine faszinierende Brahms-Aufnahme herausgebracht.

Foto: Reetz/Oliver Reetz

Seit Nikolaus Harnoncourt, John Eliot Gardiner, Reinhard Goebel & Co.: Die historische Aufführungspraxis mit dem Spielen auf alten Instrumenten hat unser Denken über Musik seit den 60er Jahren grundlegend verändert. Das Kunstwerk ist neuerdings keine nachbarschaftlich vertraute Größe mehr, sondern ein spröder Berg, dessen Besteigung intellektuell gemeistert werden muss. Daran waren die Musiker bei den Originalklang-Fexen von Anfang an beteiligt. Das hatte Folgen – fürs Teamwork, für den demokratischen Spirit. Manche Ensembles schafften den Dirigenten ab, lassen sich vom Konzertmeister-Pult aus koordinieren und bitten nur von Zeit zu Zeit einen Taktstock aufs Podium.

Die Zusammenarbeit der Deutschen Kammerphilharmonie Bremen mit dem estnischen Dirigenten Paavo Järvi ist durch viele Jahre grandioser Zusammenarbeit gewachsen und gehärtet, ihre Beethoven- und Schumann-Aufnahmen haben Kultstatus erlangt. Zwar spielen die Bremer vorwiegend auf modernen Instrumenten, aber sie haben die Essenzen der Historisten abgeschöpft und synthetisiert. Ihre Botschaft: Man muss nicht darmbesaitet spielen, um so zu klingen. Vor allem dürfen die Bremer von sich behaupten, ein denkendes Orchester zu sein. Die Musiker begeben sich regelmäßig in Klausur, erarbeiten Werke mit höchster Genauigkeit und befinden sich doch fortwährend im Korrekturmodus – sogar in der Aufführung. Das hält wach und die Musik wunderbar frisch.

Neulich ging die gemeinsame Vermessung der Welt mit Johannes Brahms weiter. Die 2. Sinfonie D-Dur hatten sie schon aufgenommen, jetzt ist die Erste an der Reihe. Auch die 1. Sinfonie c-Moll zählt zu den ewigen Brummern, die durch unsere Philharmonien und Tonhallen fliegen. Sie liefert alles, was wir von Brahms erwarten: die herrischen Verschlingungen des Beginns, die Melancholie, das choralhafte Tuten der Posaunen, großartige Steigerungen und das spezifische Element der „entwickelnden Variation“, die Schönberg als wesenhaft für Brahms‘ Sinfonik erachtete.

Selbstverständlich ist der Markt mit vielen guten Aufnahmen gesättigt. Man kann sich an den großartigen George Szell halten, an den unschlagbaren Günter Wand. Karajan war immer ein sehr guter Brahms-Interpret. Bernstein putschte sich an Brahms auf und goss all sein Herzblut hinein. Toscanini vereiste ihn, Norrington filetierte ihn.

Jetzt kommt Paavo Järvi und erzählt mit den Bremern die Geschichte des Stückes als die einer Kammermusik-Komposition, deren Schichten sozusagen nebenbei eine Sinfonie ergeben. Man erlebt förmlich, wie sie die Partitur befragen, Phrasen neu modellieren, den Klang lichten oder konzentrieren. Wir hören nichts weniger als das denkende Orchester. Vor allem widerlegen sie die These, dass die Historisten zwingend alles besonders schnell und alarmhaft spielen. In der langsam lastenden Einleitung gibt es nach der Pizzicato-Heimlichkeit zwei erstaunliche Wunderharmonien aus Des-Dur und Ges-Dur, die sich wie eine Muschel öffnen und wieder schließen. Über diesen Moment der Kostbarkeit, der zugleich atmet und saugt, dirigieren die meisten Dirigenten hinweg. Järvi und seine Bremer deuten ihn als Ausblick in eine Parallelwelt, als Verheißung. Sie nehmen die Zeit heraus. Der Kessel steht nicht mehr unter Druck, die Musik darf blühen. Dann folgt das Hauptthema, und Järvi hat jetzt seinen Brahms definiert: Er ist gewiss schneidig, aber er darf viel erzählen, weil der Tag lang ist.

Das gelingt auch deshalb, weil kein Zentnergewicht an diesem Brahms hängt. Er wird förmlich um alle äußerliche Schwere erleichtert. Die Bremer spielen ihn mit vier Kontrabässen, mit reduziertem Vibrato, die Streicherbögen kleben nicht an den Saiten, es dringt Luft durch den Klang, es ist aufbruchsheller Frühling, kein Herbst, als dessen Soundtrack Brahms‘ Musik so oft gebucht wird.

Und der Adagio-Beginn des Finales ist eine Offenbarung. Die Bremer spielen ihn wirklich langsam, und wir erleben fassungslos, wie sogar die legendäre Lagerbildung Wagner (als Meister der Neudeutschen Schule) gegen Brahms (als Bewahrer der Tradition) in sich zusammenfällt. Es gibt Momente szenischer Musik, die an Wagners große Verwandlungsmusiken erinnern, mit Blitzen, die aus der Stille herausfahren, es gibt Paukennebel, große, sich langsam lichtende Düsternis, dann erfolgt die Läuterung von allen Spannungen durch das weich und weit sich streckende C-Dur-Thema. Man weiß jetzt, warum Brahms im Jahr 1870 alles daran setzte, „Rheingold“ und „Walküre“ in München zu hören. Und man muss schon sehr weit denken, dass man das so eindrucksvoll, erzählerisch, blühend und so kostbar in den Details erlebt hat. Das hier ist eine Referenzaufnahme.

Und sie hört mit den „Haydn-Variationen“, die die (bei Sony erschienene) Platte abrunden, nicht auf. Alles Norddeutsche ist dieser Interpretation fremd, sie schlendert singend durch die Wachau oder mindestens durch den Wienerwald, das Thema, der Choral St. Antoni, wirkt wie ein Volkslied, leicht und im Abgang ein bisschen nach Heurigem schmeckend. Das Klima der Musik erinnert fast an den Vormärz, weil es an subversiven Augenblicken nicht mangelt.

Nun ließen sich die Bremer Zukunftsmusikanten live in der Kölner Philharmonie bestaunen. Sie gaben dort zum Beginn des neuen Jahres ein Festkonzert, das sich fest in finnischer Hand befand. Pekka Kuusisto dirigierte (aus einem Tablet), am Konzertmeister-Pult saß Antti Tikkanen, Solist am Steinway war der famose Jazzpianist Iiro Rantala. Es ging kreuz und quer durch Klassik und Jazz, eine Haydn-Sinfonie atmete und duftete, Gershwins „Rhapsody in Blue“ dampfte, Mozarts C-Dur-Klavierkonzert betrat zwischenzeitlich sogar das „Birdland“, den legendären New Yorker Jazzclub. Und alles so herrlich wandlungsfähig: Die Trompeter spielten auf Instrumenten mal ohne, mal mit Ventilen.

Im Mittelpunkt stand natürlich Rantala, dieser trickreiche, raffinierte Grenzgänger, der morgens Bach spielt, um sich geistig aufzuwärmen, und abends den großen Melodien des Jazz nachspürt – oder selbst welche erfindet. Bei Rantala kann man alles bewundern: sein Timing, seine Virtuosität, seine Phantasie. Und die Bescheidenheit, mit welcher er bei Mozart zum Teil eines großen konzertanten Ganzen wird.  

In der Zugabe wurden die restlos begeisterten Zuhörer an Vergangenheit und Zukunft zugleich erinnert: Die Bremer spielten den „Cancan“ aus Offenbachs Operette „Orpheus in der Unterwelt“. Dieser Offenbach wurde im Juni 1819, also vor 200 Jahren, geboren. Wo? In Köln.

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