Der Westen als schillernder Begriff und Verheißung

Der frühere Verfassungsrichter Udo di Fabio ist ein streitbarer Geist und ein scharfer Denker. In seinem Buch "Schwankender Westen" behandelt er eines seiner Lieblingsthemen: die innere und äußere Bedrohung eines Gesellschaftsmodells, das wohl einmalig ist in der Welt. Es geht um den soziokulturell geprägten Begriff des Westens, der für individuelle Freiheit, säkularen Staat, Demokratie, Herrschaft des Rechts und Marktwirtschaft steht. Diese humanitären Werte, die sich in einer langen Zeitspanne vom Mittelalter über die Renaissance bis zur Aufklärung herausgebildet haben, verbinden die europäischen Länder.

Den so verstandenen Westen sieht di Fabio in Gefahr. Er macht dafür auswärtige Ideologien und Mächte wie den Islamismus, aber auch ein aggressives Russland verantwortlich. Aber auch interne Entwicklungen gefährden seiner Meinung nach die Wertegemeinschaft. So geißelt er die Vertragsbrüche bei der Rettung des überschuldeten Griechenland fast ähnlich hart wie den totalitären Islamismus. Sogar die expansive Geldpolitik der Europäischen Zentralbank bekommt in dieser Weise ihr Fett weg.

Di Fabio ist stark, wenn er von den Normen des Rechts her argumentiert. Seine Kritik an der Politik, die gern alles für ihre Zwecke passend macht, ist ein wahrer Lesegenuss. Sie rückt auch einiges gerade, was in der gegenwärtigen politischen Debatte untergeht, und betont den Vorrang von Prinzipien und den Ableitungen für das praktische Leben.

Die Mängel unserer Gesellschaft übertreibt er bisweilen, wenn er von einer "multiplen Dauerkrise" spricht. Denn grundsätzlich gelten rechtsstaatliche Prinzipien in Deutschland, und die Gerichte haben dank ihres Selbstbewusstseins eine wirklich unabhängige Stellung. Auch die Macht ist zumindest in Deutschland sehr gut ausbalanciert, wenn auch die Verantwortlichkeiten der politischen Ebenen bisweilen verschwimmen.

Aber vielleicht versteht di Fabio unter Krise den ursprünglich aus dem Griechischen stammenden Wortsinn: Zeit der Entscheidung. Spätestens dann wird die Lektüre des Buches unentbehrlich.

(kes)
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