Der umstrittene Reformer Rudolf Steiner

Man kennt ihn vor allem als Gründer der Anthroposophie und der Waldorfpädagogik, und zuletzt rückte eine Ausstellung im Kunstmuseum Wolfsburg, die Stuttgart im Februar übernimmt, diesen von den einen beargwöhnten, von anderen hoch verehrten Menschenbildner erneut ins Bewusstsein. Anlass des wiedererwachten Interesses ist der bevorstehende 150. Geburtstag Steiners am 27. Februar. Zwei neue Bücher beleuchten nun Leben und Werk des 1925 gestorbenen Reformers: Miriam Gebhardt nennt Rudolf Steiner im Untertitel ihres Buches einen "modernen Propheten", Helmut Zander hat schlicht eine "Biografie" verfasst. Beide Werke ähneln im Aufbau einander, ebenso in der Bewertung von Steiner. Aus ihnen spricht eine Faszination vom Lebenslauf ihres Helden, der aus einem Winkel des Habsburgerreichs heraus zu einem Star des gesellschaftlichen Lebens in Europa aufstieg, zugleich aber auch eine gehörige Distanz zu Steiners Okkultismus und zur Waldorfpädagogik.

Zander, der sich zuvor bereits als Autor einer zweibändigen Studie über die "Anthroposophie in Deutschland" einen Namen gemacht hat, wirkt im Vergleich zu Gebhardt noch ein Stück besser informiert; Gebhardt dagegen benötigt statt 536 Seiten nur 360, um Steiner in Worten auferstehen zu lassen. Beide Autoren belegen eindrucksvoll, dass Steiner zunächst keine singuläre Gestalt war, sondern einer von vielen, die um die Jahrhundertwende die Fesseln der Bürgerlichkeit abstreifen und einen neuen Lebensentwurf vorlegen wollten. Steiners Weg verlief nicht gradlinig. Er begeisterte sich früh fürs Kräutersammeln, entdeckte Goethe, lernte die Theosophie kennen – die Lehre von der intuitiven Schauung des Göttlichen –, stieß auf die Schriften Nietzsches, entwickelte ein esoterisches Christentum, erregte als Architekt in eigener Sache Aufsehen und trat spät mit denjenigen Ideen hervor, die man heute mit seinem Namen verbindet: Waldorfpädagogik und anthroposophische Medizin.

Wie erklärt sich der große zeitgenössische Erfolg von Steiner, diesem Propheten eines Okkultismus, der allen Errungenschaften der Aufklärung Hohn zu sprechen schien? Beide Autoren lassen sich lediglich auf Mutmaßungen ein: Die Menschen gierten damals nach einem neuen, alles Überkommene verwerfenden Leben. Doch das erklärt noch nicht, warum aus der Fülle der Propheten ausgerechnet Steiner als derjenige hervorging, von dem man immer noch spricht. Wahrscheinlich schätzte man an ihm, dass sein Entwurf sämtliche Bestandteile des Menschseins miteinander verband: Religion und Wissenschaft, Geist und Körper, Erziehung und Medizin, Gesellschaft und Landwirtschaft. Der Mann, der alles neu ordnete und dabei oft wenig auf wissenschaftliche Erkenntnisse Rücksicht nahm, hielt seinem Gedankengebäude allerdings keine Entwicklungsmöglichkeiten offen, so dass sein einst bahnbrechendes Konzept für die Waldorfschule heute unantastbar erscheint und kaum auf neue Erkenntnisse der Entwicklungspsychologie reagieren kann.

Das veranlasst beide Autoren, die Waldorfschule von heute schlechtzureden. Und da offenbart sich der Mangel beider Bücher: Ihre Verfasser verstehen sich glänzend auf die Theorie, scheinen jedoch die Praxis kaum zu kennen. Denn unbestreitbar haben die enge Verbindung von geistiger und körperlicher Bewegung, die Betonung alles Musischen und Handwerklichen und der ganzheitliche Ansatz in der Waldorfpädagogik ihr Gutes. Staatliche Schulen haben längst manches davon übernommen. Liegt die Stärke der Waldorfschule an Steiners Pädagogik selbst oder eher an den Lehrern, die sich von der Ganzheitlichkeit in Bann ziehen lassen und daraus einen menschenfreundlichen Lehr- und Erziehungsstil ableiten? Das allerdings wäre schon ein Thema für ein nächstes Buch.

Info Helmut Zander: "Rudolf Steiner. Die Biografie". Piper, 536 Seiten, 24,95 Euro. – Miriam Gebhardt: "Rudolf Steiner. Ein moderner Prophet". DVA, 360 Seiten, 22.99 Euro

(Rheinische Post)
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