Der traurigste Liebesfilm des Jahres

Im französischen Film "Mademoiselle Chambon" verliebt sich ein Vater in die Lehrerin seines Sohnes. Die zarte und mit viel Ruhe erzählte Geschichte findet unerhörte Bilder für die Liebe. Sie kommt ohne Pathos aus und zeigt das Alltägliche in seiner ganzen Dramatik.

Es ist eine ungewöhnlich lange Einstellung, die Kamera steht einfach da und schaut der Frau und dem Mann zu, wie sie Musik hören. Eine CD mit Edward Elgars Violin-Sonate in e-Moll läuft, ein melancholisches Stück, kein süßes. Jean, so heißt der Mann, guckt Mademoiselle Chambon an, er dreht den Kopf wieder weg, in dem Augenblick sieht sie ihn an, dann wendet sie sich ab und so fort. Sie reden nicht, sie hören nur zu; manchmal streicht sie sich eine Strähne hinters Ohr. "To fall in love" nennen die Engländer es, wenn Menschen sich verlieben, und der Zuschauer weiß: Da fallen zwei. Das hier ist der viel besungene Moment, in dem die Welt zu zittern beginnt, und dann legt Jean tatsächlich seine Hand auf ihre: Die Fibrillen-feinen Widerhaken des Hingerissenseins sitzen nun im Herzmuskel.

"Mademoiselle Chambon" heißt dieser Film, den man gesehen haben muss, weil er so treffende Bilder findet für das Verliebtsein. Regisseur Stéphane Brizé weiß um die Symbolik der Gesten, den Reiz des Schweigens und die Bedeutung von Blicken. Er lässt ihnen Raum und Zeit, das ist ein ungemein sensibler Film, der mit großer Ruhe und Zuneigung zu seinen Figuren das Allgemein-Menschliche zur Blüte kommen lässt.

Die zwei, die sich mögen, das sind der Maurer Jean und die Lehrerin Mademoiselle Chambon. Sie unterrichtet seinen Sohn, und als er vor der Klasse seinen Beruf erklärt – engagiert, hingebungsvoll –, merkt man, dass sie eigenartig schaut. So, wie man nur in einem solchen Moment schaut. Sie bittet ihn, ihr morsches Fenster zu reparieren, er kommt und tut das. Bei ihr daheim sieht er die Geige. Sie möge doch spielen, bittet er, aber sie wehrt ab: "Es ist Jahre her, dass ich vor Leuten gespielt habe." Er sagt: "Dann drehen Sie mir doch den Rücken zu." Das alles passiert beiläufig, es ist der Alltag, der in Szene gesetzt wird, ein romantisches Dokument, wenn man so will. Und natürlich passiert das im Sommer und auf dem Land, nichts ist groß oder laut, es weht nur manchmal eine Brise.

Brizé (44) hat das Erzählen von der Liebe perfektioniert. Vor fünf Jahren kam sein Film "Man muss mich nicht lieben" ins Kino. Das war eine ruppige und sehr charmante Geschichte über einen Gerichtsvollzieher, der im Tangokurs der Macht des Gefühls erliegt. Was Brizé damals als bildhafte Entsprechungen für die Innenwelt der Verliebten wählte, ist auch in "Madame Chambon" gültig: Das Rumstehen des in Gedanken Versunkenen, das Dasitzen, das Alleinsein. Die Dialoge der Liebenden umkreisen das Eigentliche, ohne sich ihm zu nähern, sie behüten den Schatz, indem sie ihn mit Worten umstellen.

Die Tragik dieser scheinbar federleichten Liebelei ergibt sich aus den Verhältnissen, in denen Jean und die Mademoiselle leben. Jean ist verheiratet, sehr glücklich sogar, und Mademoiselle Chambon arbeitet als Vertretung, sie wechselt alle paar Monate die Schule. Die Gegenwart schnürt dem Großartigen die Luft ab, sie droht den Liebenden mit dem Schmerzhaftesten: dem Verlust der Dauer.

So liegt auf den Gesichtern der Hauptdarsteller stets ein Anflug von Vergeblichkeit. Der Zuschauer hat viel Gelegenheit, das Minenspiel zu beobachten. Vincent Lindon, den man als einstigen Freund von Prinzessin Caroline von Monaco kennen mag, und Sandrine Kiberlain spielen das perfekt, sie tasten einander ab, mit viel Zartheit. Die 42-Jährige und der 51-Jährige sind miteinander verheiratet, das mag zur Intensität beigetragen haben, denkt man, doch während der Dreharbeiten lebten sie bereits in Trennung. Kiberlain, deren Großeltern 1933 aus Polen emigrierten, gehört zu den besten Schauspielerinnen in ihrer Heimat. Sie ist auch als Sängerin erfolgreich, und ihre CD "Manquait Plus Qu'Ca" bietet mehr als das übliche galante Flüstern französischer Starlets. Ihre Liedtexte sind ironisch, sie reflektiert die klassischen Themen des Chansons, deutet sie um und neu und macht das Genre gegenwärtig.

Ähnlich geht es einem mit Kiberlains Spiel in "Mademoiselle Chambon". Sie zieht den Zuschauer an, sie fasziniert, obwohl man ihre Figur aus hunderten Liebesfilmen zu kennen meint. Sie wirkt spröde, aber man nähert sich, hört das Geräusch ihres Atems, sieht die feingliedrigen Hände: Man lernt Mademoiselle Chambon kennen. Dass dieser Film so intensiv wirkt, liegt sicher auch daran, dass er in Cinemascope gedreht wurde, also in extremer Breite auf die Leinwand projiziert wird. Die Gesichter werden lesbar, die Blicke nachvollziehbar, man erkennt die Wahrhaftigkeit.

Das Ende zerreißt dem derart bewegten Zuschauer das Herz. Er sieht die letzte Szene durch das Fenster eines Wohnhauses, da ist eine Reisetasche, dann entfernt sich die Kamera diskret.

Man ahnt: Hinter den Bildern brennt noch Licht.

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