Der sonderbare Wähler
2017 ist wieder seine Stimme gefragt. Doch die Absichten des Wählers waren noch nie so schwer zu durchschauen. Für die Demokratie muss das nicht nachteilig sein.
Was haben Politiker, Journalisten und Demoskopen gemein? Sie alle gehören angeblich zum Komplex einer kleinen Elite, die bürgerfern von ihren Schreibtischen aus die Welt erklären, vermessen und auf sie einwirken wollen. So werden sie jedenfalls von den Rechtspopulisten und auch einer zunehmenden Schar von Menschen wahrgenommen, die mit dem herrschenden politischen Establishment unzufrieden sind. Da passt es perfekt ins Bild, dass ausgerechnet die Demoskopen bei der Wahl des US-Präsidenten am 8. November 2016 mit ihren Vorhersagen so grandios danebenlagen.
Von 96 Umfragen, die Anfang September auf der Webseite "RealClearPolitics" veröffentlicht wurden, sahen nur elf den Außenseiter Donald Trump vorn. Unter den führenden Medien der USA, die alle eigene Wahlprognosen in Auftrag gegeben hatten, schätzte nur die "Los Angeles Times" die Chancen Trumps höher ein als die Hillary Clintons. Selbst der konservative Sender "Fox News" hatte sich noch am Wahlabend auf die ihm verhasste Bewerberin festgelegt.
Die Häme, die den Demoskopen entgegenschlug, war beträchtlich. Man hätte genauso gut würfeln können, war noch einer der harmloseren Kritiken. Der Filmemacher Michael Moore forderte auf seiner Facebook-Seite: "Feuert die Demoskopen, Experten und Vorhersager". Tatsächlich ist die US-Wahl nicht die erste Schlappe für die Erforscher der Volksmeinung. Auch das Votum für den Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union sagte nur eine kleine Minderheit der Demoskopen richtig voraus. Und bei den Landtagswahlen im März, als die rechtskonservative AfD in Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz und Sachsen-Anhalt Triumphe feierte, lagen die Meinungsforscher signifikant daneben. "Wir haben die Dunkelziffer derer, die trotz anderer Aussage die AfD dann doch wählten, zu niedrig eingeschätzt", gibt Matthias Jung, der Chef der angesehenen Forschungsgruppe Wahlen aus Mannheim, zu.
2017 durchläuft Deutschland einen Wahlmarathon. Neben Landtagswahlen wie in Nordrhein-Westfalen, aber auch im Saarland und in Schleswig-Holstein, steht Mitte September die Bundestagswahl an. Außerdem wird in wichtigen Nachbarländern wie Frankreich und den Niederlanden gewählt, auch in Großbritannien und Italien sind vorzeitige Urnengänge nicht ausgeschlossen. Überall steht die Kritik an der politischen Klasse hoch im Kurs. Zugleich lassen sich immer mehr Wähler immer weniger in die Karten schauen, verweigern sich Umfragen und beschimpfen sogar professionelle Rechercheure.
Sind die Bürger in ihrer Wahlentscheidung unberechenbarer und weniger mitteilsam geworden? Zum Teil, findet Jung. "Die Bindungskraft der großen Parteien hat dramatisch abgenommen", beobachtet der Wahlforscher. Parteien wie die Union könnten sich nur noch darauf verlassen, dass 30 Prozent sie sicher wählen. Bei der SPD liegt der Prozentsatz sogar bei 20 Prozent. Manfred Güllner, Chef des Meinungsforschungsinstituts Forsa, kann diese Entwicklung mit Zahlen untermauern. So gewann Helmut Kohl noch in seiner ersten Wahl als Kanzler 1983 rund 43 Prozent der Wahlberechtigten, also einschließlich der Nichtwähler. Bei seiner Niederlage 1998 waren es noch 28 Prozent. Seine Nachfolgerin Angela Merkel erreichte 2013 bei ihrer Erfolgswahl nur 29 Prozent der Wahlberechtigten (Wahlergebnis: 41,5 Prozent), weil die Zahl der Nichtwähler entsprechend stieg. Noch deutlicher sind die Verluste der SPD. Von 1998 bis 2009 halbierte sich ihre Wählerzahl von 20 auf zehn Millionen. Wenn aber die Stammwähler so rapide abnehmen, sind Vorhersagen schwieriger. Viele entscheiden sich sogar erst in der Wahlkabine. "Wir können mit dem Instrument der Umfragen keine exakten Stimmen prognostizieren, sondern nur die aktuelle politische Stimmung messen", sagt der Forsa-Chef.
Trotzdem spricht nach wie vor vieles für die Methodik der Wahlforscher. Sie suchen eine repräsentative Gruppe von rund 1000 Personen aus, die sie nach dem Zufallsprinzip ermitteln und per Telefon befragen. Die Erkenntnisse der Medienforschung im Internet machen zwar bestimmte Gruppen sehr transparent. Aber sie repräsentieren nicht die Gesamtheit. "Nur 55 Prozent der über 65-Jährigen haben einen Internetanschluss. Das macht Online-Umfragen wertlos, da gerade die Älteren eine wichtige Wählergruppe sind", sagt Jung.
Das gute alte Festnetz mit der regionalen Zuordnung der Befragten ist weiterhin der Goldstandard. Bei Mobilfunk-Umfragen haben die Wahlforscher ermittelt, dass dort nur der Anteil der Nichtwähler höher ist. Mit ihren traditionellen Instrumenten hätten die Demoskopen schon bei den Wahlen in Berlin und Mecklenburg-Vorpommern aus den Fehlern in Bezug auf die AfD gelernt.
Wie wird also die AfD im Zeitalter von Internet und Protest das Wahljahr 2017 bestimmen? Die Meinungsforscher sind zurückhaltend. Nach Untersuchungen von Forsa gibt es seit Jahrzehnten einen Anteil von zehn bis 15 Prozent der Bevölkerung in Deutschland, die ein antidemokratisches Weltbild besitzen. "Das können rechtsextreme, aber auch rechtspopulistische Parteien ausschöpfen", sagt Forsa-Chef Güllner. Die radikale NPD sei daran gescheitert, die AfD gehe geschickter vor. Und noch ein Potenzial ist für solche Gruppen erreichbar. Nämlich Bürger, die mit der politischen Klasse hadern, die wegen Zuwanderung, Anschlägen und Kriminalität besorgt sind, aber das System nicht ablehnen.
Beide Gruppen sind durch die sozialen Medien wie Facebook oder Twitter leichter zu erreichen. "Viele neigen auch zu Verschwörungstheorien oder sitzen Falschmeldungen auf, wenn sie ins Weltbild passen", hat Güllner festgestellt. Hier droht den etablierten, demokratischen Parteien Gefahr. Doch gerade bei den besorgten Bürgern ergeben sich auch Chancen für die bisherigen etablierten Parteien. "Jemand wie Kanzlerin Merkel verkörpert Sicherheit, die innere wie die äußere und die soziale", erklärt Wahlforscher Güllner. Ihre Ausgangslage im Wahljahr 2017 sei deshalb gar nicht so schlecht.
Selbst weitere Terroranschläge würden wenig ändern. "Gerade die besorgten Bürger scharen sich dann um die Staatsmacht", behauptet Güllner. Die würden sich von der Minderheit, die lautstark im Internet ihre Parolen verbreitet, eher abwenden. Das ist kein Freibrief, Fehler zu begehen oder sich nicht um die Sicherheit der Bürger zu kümmern. Sonst könnten die Rechten auch bei den besorgten Bürgern punkten. Doch bis dahin, so lässt sich aus den Befunden der Wahlforscher herauslesen, fühlt sich die große Mehrheit bei der heutigen politischen Elite ganz gut aufgehoben.