Analyse Der neue Bergfilm kennt keine Idyllen

Das Alpenglühen ist erloschen: Das Genre des Bergfilms erlebt eine Ernüchterung.

So trostlos war die Bergwelt selten. In einem schneelosen Industriegebiet am Fuße der Alpen beginnt der Weg des zwölfjährigen Simon hinauf in die Berge. Seinen Plastikschlitten zieht er über braunes Gras, am Körper hat er einen abgewetzten Anorak, viel zu dünn für den Ausflug an die Piste. Doch der Junge fährt auch nicht zum Vergnügen in die Welt der topausgestatteten Edeltouristen. Er hat es auf ihre Ausrüstung abgesehen, auf die entspiegelten Sonnenbrillen, die gefütterten Handschuhe, die teuren Kinderskier. Weil sich die Reichen auf der Bergspitze unter sich wähnen, kann er die Dinge einfach stehlen. In einem Schneetransporter schafft er sie ins Tal, verhökert sie an die anderen Kinder in der Siedlung. Das bringt nur wenig ein. Simon kann es gebrauchen.

Der moderne Bergfilm entführt längst nicht mehr in Idyllen, in denen es noch Edelweiß zu pflücken oder eine Wetterwende zu überstehen gilt. Regisseure wie Joseph Vilsmaier oder Philipp Stölzl inszenieren in Filmen wie "Nanga Parbat" oder "Nordwand" die Berge als ungnädiges Gegenüber des Menschen. Klein, verletzlich, ausgeliefert hängen die Helden in den Steilwänden, sie haben die Natur herausgefordert und sind ihr nicht gewachsen. Der Überlebenskampf in den Bergen ist nicht mehr schön anzusehen im modernen Bergfilm, das Bangen überschreitet die Dauer von Gewittern, und der Steinschlag trifft nicht mehr nur die Halunken.

Die Schweizer Regisseurin Ursula Meier geht nun in "Winterdieb" noch einen Schritt weiter in der Ernüchterung des Genres. Sie braucht die Alpen nicht mehr als immer noch majestätische Drohkulisse. Sie inszeniert etwas viel Unerbittlicheres in der Bergwelt: Klassenunterschiede. Ihr kleiner Dieb ist kein netter Lausejunge, sondern ein gerissenes Kind, das sich schon mit Zwölf keine Skrupel mehr leisten kann. Doch es trifft einen ins Mark, wenn sich dieses Kind mit dem alten Gesichtsausdruck unter den Reichen an der Skihütte in einen Liegestuhl mit Pelzdecke fallen lässt und absolut unpassend wirkt, weil es nicht die richtigen Kleider, nicht die richtige selbstbewusste Verspieltheit der anderen Kinder dort hat. Simon wirkt deplatziert, weil er deklassiert ist. Und Ursula Meier kann das mit solch stiller Bitterkeit in Szene setzen, dass einem der Atem stockt. Etwa, wenn sie beobachtet, wie eine Frau sich wohlmeinend mit Simon unterhält. Doch der ist eben kein niedlicher höherer Sohn, sondern ringt auf seine Art um Anerkennung: Er will die Frau einladen, ihr Essen auf der Skihütte bezahlen, wie ein Erwachsener. Simon spürt nicht, wie unpassend sein Gehabe ist. Er kennt es nicht anders. Die Männer, mit denen Louise ausgeht, verhalten sich auch so. Mit der jungen Frau, die meistens keinen Job hat, lebt Simon in diesem abgelegenen Hochhaus am Rande des Gewerbegebiets. Sie ist die Ältere, doch erwachsen wirkt der Junge, wenn er abends daheim die geklauten Skier wachst, um sie teurer verkaufen zu können oder sich darum kümmert, dass mal Brot im Haus ist, nicht nur Zigaretten. Louise ist nur mit ihren Liebhabern beschäftigt, ihnen läuft sie nach, liebeshungrig, bereit, jede Demütigung einzustecken.

In einer der schrecklichsten Szenen dieses Films tritt Simon an Louises Bett, legt Geld auf ihren Nachtschrank. Er will sich an sie kuscheln, sucht Geborgenheit, wenn er sie auch bezahlen muss. Und Louise lässt es geschehen. Da zeigt dieser Film zwei Menschen, die so einsam sind wie ein Bergsteiger auf dem Felsvorsprung, wenn sein Seil gerissen ist. "Winterdieb" ist ein Drama, in dem die Menschen genauso klein, verletzlich, ausgeliefert sind wie die Kletterer am Gletscher. Doch es sind keine Naturgewalten, an denen sie zu scheitern drohen, sondern die Verhältnisse – von Menschen gemacht. Simons Weg ist vorgezeichnet. Wenn er an den Hintertüren der Pistengastronomie den ausländischen Saisonarbeitern seine Hehlerware anbietet, ist er schon ein reifer Krimineller.

Dass dieser Weg nicht naturgegeben ist, zeigt Ursula Meier in den wenigen zarten Momenten dieses Films. Da sitzt Simon auf einer dieser Kinderseilrutschen, baumelt versonnen vor sich hin, führt einmal nichts im Schilde. Die Bergwelt ist grau auch in dieser Szene, die Saison am Ende, die Touristen sind fort. Simon kann seiner Situation nicht entfliehen. Er ist kein Tourist, er ist verdammt zum Leben am Rande der Berge.

(RP)
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