Rotterdam Großartiger Dirigent für Tschaikowski

Rotterdam · Der Kanadier Yannick Nézet-Séguin überwältigt mit der 6. Symphonie h-moll.

Wenn wir an Musik und an unser liebes westliches Nachbarland denken, fällt uns natürlich sofort das Concertgebouw Orkest in Amsterdam ein, ein exquisiter Klangkörper, der vor einiger Zeit von einer internationalen Kritikerrunde zum weltbesten Orchester gewählt wurde — vor Wien, vor Berlin, vor den US-Orchestern.

Doch auch in Rotterdam versteht man sich auf hohe philharmonische Kunst. Das dortige Orchester verfügt über eine lange Tradition namhafter Chefdirigenten, darunter Jeffrey Tate, James Conlon, Valery Gergiev, Edo de Waart. Seit 2008 ist der Kanadier Yannick Nézet-Séguin das Oberhaupt, auch er einer dieser jungen, ewig hungrigen metamusikalischen Stars, die auf der DNA das richtige Gen an der richtigen Stelle haben: ein Erzmusikant, der Musik unter Strom setzt und die Spannung lang zu halten versteht, zugleich ein energischer Probierer mit einem erstklassigen Klangsinn. Außerdem ein netter Kerl, der außerhalb der Probe gern ein Bierchen mit den Kollegen trinkt. In der Probe nüchtert er sie dann wieder aus.

Diese Balance aus Enthusiasmus, Ökonomie und geschärftem Verlauf glückt Nézet-Séguin und den Rotterdamern jetzt in einer der schönsten Orchesteraufnahmen der jüngsten Zeit — und das ausgerechnet bei einem beinahe totgeschluchzten Stück, der "Pathétique", der 6. Symphonie h-moll von Peter Tschaikowski. Nézet-Séguin, seit vergangenem Jahr Exklusiv-Künstler der Deutschen Grammophon, missversteht das Werk nicht als öden symphonischen Thriller, der bei jeder Gelegenheit an der Spannungsschraube dreht. Der Kanadier bevorzugt eher die Hitze der glühenden Kohlen, sie wärmt nachhaltiger; er verzichtet auf absurd schroffe Tempowechsel, er lässt eins aus dem anderen erwachsen.

Dabei zeigt das wunderbare Orchester, was es kann: Die Gipfelungen im Kopfsatz kommen bestechend präzise heraus, ohne zu Grimassen zu verkommen, der zweite Satz walzert sich in eine Wehmut, dass man beinahe erschrickt, die Gewalt des Scherzos ist hintergründig, und das Abschiedsschmerz-Szenario des langsamen Satzes gelingt ereignis-, aber nicht tränenreich. Oder: Die Musik klagt, aber sie jammert nicht. Schöner wurde das lange nicht gespielt; aber auch wohl kaum besser aufgenommen.

Seit dem vergangenen Jahr ist der 38-Jährige zudem Chefdirigent des ruhmreichen Philadelphia Orchestra, um das es finanziell nicht sonderlich gut stand. Nun, ein Orchester, das sich einen Nézet-Séguin leisten kann, hat eine gute Prognose. Stars amortisieren sich immer.

Info Peter Tschaikowski, 6. Symphonie h-moll; Violinromanzen; Lisa Batiashvili (Violine), Rotterdam Philharmonic Orchestra, Yannick Nézet-Séguin, DGG/Universal CD 479 0835

(RP)
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