Düsseldorf Der große Redner Walter Jens ist 90

Düsseldorf · Vor fünf Jahren erkrankte der geachtete Gelehrte aus Tübingen an Demenz.

Es fällt nicht leicht zu schreiben, dass Walter Jens heute seinen 90. Geburtstag feiern wird. Denn was es zu feiern gibt, ist ungewiss bei einem Mann, der sich nach Bekanntwerden seiner Demenzerkrankung vor fünf Jahren erst aus der Öffentlichkeit und dann in seine eigene Welt zurückgezogen hat. Inzwischen ist er weitgehend unserer Wahrnehmung entschwunden; schon die letzten Berichte über ihn und sein Schicksal klangen wie Abschiede, manchmal gar wie Nachrufe.

Es war auf jeden Fall der Abschied aus jener Öffentlichkeit, die einen wesentlichen Teil seines Lebens und Wirkens ausmachte. Auf diesem Marktplatz brillierte der leicht näselnde Tübinger — mit großer Rhetorik und mit einem vehementen, unruhigen und schnellen Geist, der aus dem schöpfen konnte, was man klassische altphilologische Bildung zu nennen pflegt.

Altersdemenz ist eine mitunter auch schicksalshaft aufgenommene Erkrankung, mit der alle Betroffenen oft nur schwer umgehen können. Bei Walter Jens kam hinzu, dass einem großen Geist der Geist entzogen wurde, dass ausgerechnet dem geachteten Gelehrten der Intellekt abhanden kam. Weil sein "Markenzeichen" der helle und wache Kopf war, wird besonders bei ihm der Verlust des Scharfsinns zum Verlust seiner Identität.

Hinter diesem Schicksal ist mit der Zeit vieles in Vergessenheit geraten: der große Tübinger Rhetorik-Professor Walter Jens; der junge Jens als scharfer, aber selten verletzender Starkritiker der Gruppe 47; der mittelmäßige Autor und inspirierte Erforscher der Familie um Thomas Mann; der engagierte und tatkräftige Demokrat, der mit seiner Frau Inge amerikanischen Soldaten daheim Asyl gewährte, die nicht bereit waren, in den Golfkrieg zu ziehen; der Bibel-Exeget, der so wortgewandt für die Achtung der Maria von Magdala eintreten konnte.

Das alles ist in seinen Biographien zwar sorgsam hinterlegt, im Bewusstsein der Menschen aber lebt anderes. Neben der Demenz — die sein des öfteren Skandale suchender Sohn Tilman Jens werbewirksam publik machte — kam die "Enthüllung", dass ausgerechnet er seit dem 1. Dezember 1942 Mitglied der NSDAP war. Der Eintrag ist bewiesen, allerdings beharrte Jens darauf, davon nichts gewusst zu haben.

Seine Demenzerkrankung wurde schließlich als Kennzeichen einer Generation von deutschen Intellektuellen gedeutet, die ihre mögliche Schuld zu verdrängen suchten. Neben Jens gehörten dazu Günter Grass als Mitglied der Waffen-SS wie auch Dieter Hildebrandt und Siegfried Lenz, von denen man in den Archiven ebenfalls NSDAP-Mitgliedskarten ausfindig machte. Eine furchtbare Krankheit diente plötzlich als gesellschaftliches Symptom.

Zum Lebensende ist Walter Jens jene Mündigkeit verloren gegangen, die er für alle Menschen stets eingefordert hat. Zusammen mit seinem Nachbarn und Freund Hans Küng plädierte er für die aktive Sterbehilfe, für den "Gnadentod als Menschenrecht", für ein Sterben, das bewusst gewünscht wird. Diese Selbstverantwortung aber ist ihm gänzlich entzogen worden.

Der 90. Geburtstag — ein Grund zum Feiern? Vielleicht in der Form, dass man aus der langen Reihe seiner Publikationen ein Buch herausgreift, es liest und so mit eigenem Gewinn dem großen Denker Ehre erweist.

(RP)
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