Der Charme der "documenta"

Wer über die Schauplätze der größten Gegenwartskunstausstellung der Welt flaniert, fühlt sich rasch als Kasseler. In der Karlsaue vermischen sich die "documenta"-Gänger mit Joggern und Kinderwagen schiebenden Müttern, in der Innenstadt mit Käufern und Berufstätigen.

Kassel Über die "documenta" zu flanieren, hat nichts mit Eleganz zu tun. Stöckelschuhe wären für die unbefestigten Wege der Karlsaue, die das Freiluft-Zentrum der Gegenwartskunst-Schau bildet, so ungeeignet wie bei den Herren Ledersohlen auf feuchtem Grund. Die Profis unter den "documenta"-Besuchern erkennt man an Regenbekleidung, Rucksack und Wanderschuhen – und dem obligatorischen Lageplan samt grünem Kurzführer unter dem Arm. Das vor allem unterscheidet die Besucher von auswärts von jenen, welche in der Karlsaue ihre Laufrunden ziehen oder einen Kinderwagen schieben.

Nach den Eröffnungsreden und den Fototerminen mit Prominenten ist die "documenta" nun im Kasseler Alltag angekommen. Dort muss sie sich bewähren: bei Rentnern und Schulklassen, bei frisch Verliebten und Ehepaaren, vor allem aber bei Menschen, die sich von der "documenta" erhoffen, sie möge ihnen neue Blicke auf die Welt eröffnen.

Die Karlsaue mit ihren Wiesen, Bäumen und Wasserflächen ist dazu der geeignete Ort. Man wandert von Holzhäuschen zu Holzhäuschen, und in jedem erschließt sich ein anderes Thema. Wer wissen will, was "documenta"-Chefin und Kuratorin Carolyn Christov-Bakargiev mit ihrem Etat von fast 25 Millionen Euro angestellt hat, wird hier fündig: Sie hat gezielt Aufträge dazu erteilt, Pläne von Künstlern, die sie ausgewählt hatte, in die Wirklichkeit umzusetzen. Künstler, die aus der Reihe tanzen könnten, waren dabei ausgeschlossen.

Auf diese Weise hat sich die Karlsaue mit prägnanten Installationen gefüllt: Mit einem riesigen Holzgerüst, aus Modellen historischer Galgen gefertigt, demonstriert der amerikanische Künstler Sam Durant gegen die Todesstrafe. Issa Samb aus Senegal illustriert seine Suche nach Magie abseits moderner Medien mit Tüchern zwischen Bäumen. Und Araya Rasdjarmrearnsook aus Thailand hat im Auftrag der "documenta" ein umzäuntes Haus errichtet, das sie mit einem Hund teilt – als Zeichen für die Freundschaften, die uns mit der anderen Spezies verbinden. Video-Aufnahmen erinnern an streunende Hunde auf den Straßen Thailands. Die Kölnerin Rosemarie Trockel hat zur "documenta" einen "Tea Party Pavillon" beigesteuert mit einem süffisanten Beitrag zum Thema Frauengefängnisse. Am Ende der Karlsaue kann der womöglich von der Vielzahl der Themen überforderte Besucher in Pedro Reyes' "Sanatorium" Zuflucht suchen, das tatsächlich zu einer Therapie an Ort und Stelle einlädt.

Schon früh fragt man sich als "documenta"-Flaneur, welches Band all diese Themen zusammenhält. Dabei geht es nicht nur um die Pavillons in der Natur, sondern auch um die Ausstellungen im Fridericianum, in der Neuen Galerie, im Naturkundemuseum Ottoneum und in den Hallen neben dem Hauptbahnhof. Die Kuratorin hat selbst einen Hinweis dazu gegeben, indem sie den Begriff "Zerstörung und Wiederaufbau" benutzte.

Die Schrottskulptur, welche die Italienerin Lara Favaretto hinter dem Hauptbahnhof errichtet hat, setzt sich aus Material von Kasseler Mülldeponien zusammen. Aus Zerstörtem kann Neues entstehen – das ist wohl die Botschaft. Und die Schmetterlinge, welche die Düsseldorfer Akademie-Studentin Kristina Buch vor der "documenta-Halle" aus dort ausgelegten Puppen schlüpfen lassen will, zeugen von dem Versuch, inmitten von Auto-Abgasen ein Zeichen von Leben zu setzen.

Tiere, Pflanzen – das galt zunächst als das große Thema der "documenta". Doch in Wirklichkeit ist es nur eines unter vielen. Am ehesten noch lässt sich diese anregende, aber auch verwirrende Kunst-Ausstellung mit der Occupy-Bewegung vergleichen, diesem öffentlichen Protest gegen Politik und Wirtschaft. Nicht ohne Grund haben die jungen, verwegen wirkenden Gestalten ihr Camp in Kassel unmittelbar vor dem Fridericianum aufgeschlagen, ohne dass man sie dazu geladen hätte. Im Vergleich mit "Occupy" ist die Kritik, die aus der "documenta" weht, allerdings meist mehrschichtig, feinnervig und nicht immer leicht verständlich.

Das Publikum zeigt sich erstaunlich aufgeschlossen. Man muss das gesehen haben: Zwei Dutzend überwiegend junge Menschen sitzen in einem Wäldchen der Karlsaue auf Baumstümpfen, um einer aus Lautsprechern tönenden Komposition von Arvo Pärt zu lauschen. Und in einer ehemaligen Versandhalle des Hauptbahnhofs schauen Neugierige versonnen zu, wie Jalousien sich heben und senken, als sei diese Installation der in Berlin lebenden Koreanerin Haegue Yang eine Offenbarung. Doch ist es hier wie überall: Wer an Wunder nicht glaubt, wird niemals eins erleben.

(RP)
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