Exklusives Schachturnier in Düsseldorf Könige im Bauernstaat
Düsseldorf · Schachgroßmeister verfügen über immense kombinatorische Qualitäten – und über ein riesiges Gedächtnis. Jetzt treffen sich die besten Spieler der Welt in Düsseldorf.
Immer wieder dienstags fuhr ich als Junge in die Mönchengladbacher Gaststätte „Reumers“ auf der Eickener Straße, um mich einräuchern, vorführen und hinrichten zu lassen. Spaß hatte ich trotzdem, und manchmal gewann ich ja auch.
Der Richtplatz war seinerzeit, in den Siebzigern, das Lokal des Mönchengladbacher Schachvereins 1878, ein schlauchartiges Etablissement, in dem Menschen unterschiedlicher Altersgruppen über karierten Brettern mit 64 Feldern hockten und, wie Außenstehende sagen würden, Figürchen verschoben. Geredet wurde wenig, geraucht viel. Bisweilen rief jemand: „Ich Idiot!“, was auf einen Patzer von solcher Tragweite schließen ließ, dass sein Gegner den Knoten im Mattnetz sogleich zuziehen konnte. Manchmal verlor der Idiot auch die Königin oder einen Turm.
Die Karpows, Anands, Kasparows und Carlsens dieser Welt, also die legendären Denkgenies unter den Großmeistern, waren immer eine eigene Liga. Im Amateursport gilt Schach seit Menschengedenken als unaufgeregte Angelegenheit stiller Geister. Die spielen einmal pro Woche im Vereinslokal, betreiben ein bisschen Eröffnungstheorie und fahren am Sonntag um 11 Uhr zum Wettkampf der zweiten Mannschaft in den Nachbarort. Dort verlieren sie mit Schwarz nach zähem Kampf die Drachenvariante der Sizilianischen Verteidigung, und der Sonntag ist im Eimer. Andererseits las und liest man immer von erstaunlichem Nachwuchs. In anderen Ländern gibt es regelrechte Schachpädagogik-Programme, vor allem in Russland und China. Doch hierzulande holt man auf, bei Jungen wie bei Mädchen, und wer sieht, wie großartig die Jugend gefordert und gefördert wird, dem wird warm ums Läufer- und Bauernherz. Vieles ist wie so oft dem Idealismus einzelner Trainer geschuldet. Geraucht und geflucht wird auch schon lange nicht mehr, Schachspieler sind inzwischen Sportler.
Momentan schickt sich der deutsche Nachwuchs an, der Weltspitze die Zähnchen zu zeigen – und in der kommenden Woche (vom 15. bis 27. Februar) gibt es in Düsseldorf, im noblen Hyatt Regency im Hafen, sogar einen Wettkampf, die „WR Chess Masters“, bei dem die ganz Großen mitspielen – darunter Vincent Keymer, geboren 2004 in Mainz. Er ist aktuell die Hoffnung des deutschen Schachs, das in jüngerer Zeit nur sehr wenige Stars hervorgebracht hat. Als Keymer neulich beim furios besetzten Schachturnier in Wijk aan Zee phasenweise mit der Weltelite konkurrieren konnte, brachen bei den Schachservern die Leitungen zusammen, so viele Menschen wollten Schach online gucken.
Das lag aber nicht nur an Keymer und kam auch nicht von ungefähr. In der Corona-Pandemie entwickelte sich Schach zur Internet-Sportart mit riesigem und unerwartetem Zulauf. Die Netflix-Serie „Das Damengambit“ erhöhte die Frequenz und Intensität der Zuneigung. Seit Jahren ist man ja auch nicht mehr auf Schachcomputer von der Größe einer Warmhalteplatte und auf Steckdosen angewiesen, sondern spielt direkt auf dem Smartphone. Sehr nutzerfreundlich ist die Plattform Lichess für das Partiechen zwischendurch. Wer es ganz schnell mag, gönnt sich eine Bedenkzeit von insgesamt 60 Sekunden (den Modus nennt man Bullet), trifft auf einen Oldie aus Peru oder einen kindlichen Pfiffikus aus Vietnam - und nach spätestens zwei Minuten ist alles vorbei. In der Chat-Rubrik kann man miteinander plaudern oder sich per Knopfdruck mit „Good game, thank you“ verabschieden. Und gleich das nächste Spiel eröffnen. Das ist etwas für die Jugend und die Schnellzocker. Ohnehin haben sich in der jüngsten Vergangenheit, so berichtet Thomas Krause, der Schach-Beauftragte im Stadtsportbund Mönchengladbach, eine ganze Menge neuer und vor allem junger Spieler im Verein angemeldet. Die wollen offenbar wirklich lieber Schach spielen statt „Fortnite“ – faszinierend.
Natürlich hängt diese Attraktivität mit dem Personal an der Weltspitze zusammen. Nicht nur bei schillernden Wettbewerben wie Sinquefield, Norway Chess oder Tata Chess (in Wijk aan Zee), sondern auch bei den sogenannten Kandidatenturnieren, die den WM-Herausforderer filtern, sind immer mehr genialische Leute aus allen Winkeln der Welt zusammen. Die gefühlt übermächtige russische Dominanz früherer Jahrzehnte haben Spitzenspieler wie der Weltmeister Magnus Carlsen aus Norwegen, der Niederländer Anish Giri, die US-Amerikaner Fabiano Caruana und Wesley So, der Chinese Ding Liren, der Armenier Levon Aronian oder der iranischstämmige Franzose Alireza Firouzja nachhaltig zerstört. Daneben gibt es lustige Freaks wie Hikaru Nakamura, der gern in poppigen Klamotten spielt, im Blitzschach eine Bastion ist und im Internet durch lumpige Streaming-Beträge, die sich über große Follower-Zahlen aber gewaltig läppern, zu stattlichem Vermögen kam. Diese Großmeister vermitteln ein etwas anderes Lebensgefühl als diese zuweilen sehr missmutig und staatsbeauftragt dreinschauenden Russen wie etwa Sergej Karjakin.
Auch bei den Frauen herrscht Aufbruchstimmung. Dort imponieren bei den Großmeisterinnen die Chinesin Yifan Hou (die aber nur noch sporadisch spielt) und die Russin Alexandra Gorjatschkina. Die beiden ukrainischen Schwestern Maria und Anna Musytschuk sind ebenfalls jederzeit in der Lage, manchen männlichen Großmeister vorzuführen. Das kann man auch von der deutschen Spitzenspielerin Elisabeth Pähtz sagen. In den ganz oberen Punkterängen ist jedoch noch nie eine Frau gelandet – mit einer Ausnahme: Judit Polgár, die Ungarin, war 2005 Nummer acht der Welt. Bei den Männern.
Das Internet hat einen sogartigen Einfluss, weil die Champions die staunende Welt an ihrem Nervenkitzel teilhaben lassen. Den derzeit müde wirkenden Magnus Carlsen nervt hingegen die fortwährende Verteidigung der Weltmeister-Bürde. Zudem hasst er Partien, bei denen ihm usbekische Nachwuchskräfte nach mehrstündiger Quälerei ein Remis abtrotzen. Dabei gilt Carlsen als Beispiel des pythonesken Schachspiels, des langsamen Erwürgens. Trotzdem, er möchte lieber kürzere Partien spielen. Kürzlich hat er in Almaty (Kasachstan) erneut die Zusatztitel des Schnell- und Blitzschachweltmeisters errungen. Wer aber wurde dort Vizeweltmeister? Vincent Keymer. Im Oktober 2022, da war er noch keine 18 Jahre alt, war er sogar in den Club der „Supergroßmeister“ vorgedrungen. Dort weilt nur, wer eine Punktzahl von über 2700 Punkten erreicht. Keymer ist der erste gebürtige Deutsche, dem das überhaupt geglückt ist, und einer von nur neun Spielern, die dabei unter 18 Jahre alt waren.
Bei der Schachplattform Lichess ist Carlsen unter Tarnnamen unterwegs (DrNykterstein), dort dominieren allerdings neben Firouzja die beiden Großmeister-Kollegen Andrew Tang (penguingim1) oder Daniel Naroditsky. Letzterer schlüpft in die Identität einer inaktiven australischen Mittelklassespielerin: Rebecca Harris; im Internet ist auch beim Schach dauernd Karneval. Tang und Naroditsky sind übrigens die ungekrönten Könige im Ultrabullet, das jedem Spieler nur 15 Sekunden Bedenkzeit insgesamt einräumt. Horror! Dabei spielt man mit sogenannten Premoves, also eigenen Zügen, die man bereits vor dem Zug des Gegners ausführt. Das geht natürlich oft auch in die Hose; entscheidend ist, wer sie nach 15 Sekunden überhaupt noch anhat. In jedem Fall setzt es eine Gabe der Antizipation voraus, eine Schnelligkeit der Auffassung und Kombinatorik, die etwas Übermenschliches hat.
Und dann gab und gibt es derzeit dieses pikante Duell zwischen Carlsen und dem US-Amerikaner Hans Moke Niemann. Der hatte den Weltmeister bei einem Online-Turnier hyperbrillant geschlagen, dabei allerdings fast durchgehend computermäßig anmutende Extremzüge gemacht, also stärkste Züge, auf die man nur mit siebenjähriger Bedenkzeit kommt. Carlsen sprach von Betrug. Irgendeinen Souffleur müsse Niemann, sagen auch andere, in Reichweite gehabt haben; vielleicht habe der Kompagnon über Bluetooth festgelegte Vibrationssignale an oder in Niemanns Körper ausgelöst. Unmöglich ist das nicht. Beweisen konnte Carlsen den Vorwurf zwar nicht; die Schachwelt wusste aber sogleich eine Reihe früherer Partien zu benennen, in denen Niemann der Fremdhilfe sogar überführt worden war. Jetzt hängt eine Millionen-Klage wegen Verleumdung im Raum.
In Düsseldorf tritt neben Giri, So, Caruana, Aronian, Keymer und anderen Koryphäen der 18-jährige Nodirbek Abdusattorov an. Der zählt zu jenen usbekischen Nachwuchskräften und hat Weltmeister Carlsen (der in Düsseldorf fehlt) neulich in kurzer Folge mehrfach hinreißend geschlagen. In Wijk aan Zee wurde er bereits Zweiter. Die Welt gehört ihm. Wir sollten lernen, seinen Namen unfallfrei auszusprechen.
Das Schachidol meiner Jugendzeit bei „Reumers“ war einfach dagegen. Der Mann hieß Robert James Fischer. Wir alle nannten ihn „Bobby“. Später wurde er wahnsinnig.